Am 7. Mai 2024 hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Mecklenburg-Vorpommern (Aktenzeichen: 5 Sa 98/23) ein wegweisendes Urteil zur Erschütterung des Beweiswerts einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AU) gefällt. Diese Entscheidung beschäftigt sich mit der Frage, unter welchen Umständen der Beweiswert einer AU in Frage gestellt werden kann, insbesondere wenn die AU zeitlich genau mit der Kündigungsfrist des Arbeitnehmers übereinstimmt.
Sachverhalt
Der Kläger, ein Fleischer, war seit dem 1. September 2020 bei der Beklagten, einem Unternehmen zur Herstellung von Wurst- und Schinkenprodukten, beschäftigt. Er kündigte sein Arbeitsverhältnis zum 15. Januar 2023 und legte unmittelbar nach der Kündigung eine AU vor, die bis zum Ende der Kündigungsfrist reichte.
Der Kläger begründete seine Arbeitsunfähigkeit mit psychischen und physischen Gesundheitsproblemen. Die Beklagte zweifelte die Echtheit der AU an, da diese die gesamte Kündigungsfrist abdeckte, und verweigerte die Entgeltfortzahlung.
Rechtliche Analyse
Erschütterung des Beweiswerts der AU
Das LAG stellte fest, dass der Beweiswert einer AU regelmäßig erschüttert ist, wenn die AU zeitlich exakt die Dauer der Kündigungsfrist abdeckt. Die Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers wurden durch mehrere Faktoren verstärkt:
- Zeitliche Koinzidenz: Die AU deckte sich passgenau mit der Kündigungsfrist. Dies führte zu ernsthaften Zweifeln an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Klägers.
- Verhalten des Klägers: Der Kläger suchte trotz ärztlicher Anordnung keinen Facharzt auf und nahm die verschriebenen Medikamente nicht ein. Dieses Verhalten stand im Widerspruch zu den ärztlichen Empfehlungen und verstärkte die Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Erkrankung.
Anforderungen an den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit
Das Gericht betonte, dass nach Erschütterung des Beweiswerts der AU der Arbeitnehmer konkrete Tatsachen darlegen und beweisen muss, die den Schluss auf eine tatsächliche Erkrankung zulassen. Dies umfasst:
- Detaillierte Beschreibung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen: Der Arbeitnehmer muss spezifische gesundheitliche Einschränkungen und deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit schildern.
- Einhaltung ärztlicher Anordnungen: Die Nichtbefolgung von ärztlichen Anordnungen oder das eigenmächtige Absetzen verschriebener Medikamente ohne Rücksprache mit dem Arzt kann den Beweiswert der AU weiter erschüttern.
Fazit
Die Entscheidung des LAG Mecklenburg-Vorpommern bestätigt, dass der Beweiswert einer AU erschüttert werden kann, wenn sie passgenau die Kündigungsfrist abdeckt und das Verhalten des Arbeitnehmers Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Erkrankung aufkommen lässt – aber dies ist zwischen den LAG streitig! Arbeitnehmer sollten in solchen Fällen jedenfalls vorsichtshalber detaillierte Nachweise über ihre tatsächliche Arbeitsunfähigkeit erbringen und ärztliche Anordnungen befolgen, um ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu wahren.
Auswirkungen für die Praxis
Für Arbeitgeber bedeutet diese Entscheidung, dass sie bei begründetem Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit eines Mitarbeiters die AU in Frage stellen können. Arbeitnehmer sollten darauf achten, ärztliche Anordnungen strikt zu befolgen und gegebenenfalls detaillierte Nachweise über ihre Erkrankung vorzulegen, um ihren Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht zu gefährden. Die Entscheidung stärkt die Position der Arbeitgeber, gibt aber auch klare Leitlinien für die Arbeitnehmer vor, um Missverständnisse und Konflikte zu vermeiden.
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