Beschränkung der Öffentlichkeit von Verhandlungen im Zuge der Corona-Krise

Die Welt bleibt zu Hause im Zuge der Corona-Krise, alleine die Justiz scheint unbeirrt ihren Dienst zu tun – dabei sind gerade die in NRW verbreiteten Justizzentren mit hunderten fluktuierenden Besuchern und Angestellten ein „Hotspot“ für Infektionen. Die Justiz verweist auf den Grundsatz öffentlicher Verhandlung – doch dieses Argument verfängt nicht. Ein Appell für mehr Verantwortung.

Update: Nach dem Schreiben des Artikels erschien zufällig (endlich) eine Pressemitteilung des Justizministeriums NRW, hier zu finden

Nun gilt in Deutschland aus gutem Grund ein eherner Grundsatz:

Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich.

§169 Abs.1 GVG

Das steht im strikten Widerspruch zu dem Bedürfnis, die Öffentlichkeit zu Begrenzen, wobei der NRW-Ministerpräsident heute treffend Formulierte „Es geht um Leben und Tod – so einfach ist das“. Da sollte man erwarten, dass gerade dort, wo Menschen eben keine Wahl haben zu erscheinen, etwa weil sie als Zeugen geladen sind, schnell agiert wird. Doch bis Stand heute findet man auf der Webseite des NRW-Justizministeriums nicht mal eine Mitteilung, Das Justizministerium NRW hat sich nun postiert, wie auch in Niedersachsen.

Öffentlichkeit begrenzen

Dass der Öffentlichkeitsgrundsatz – aus guten Gründen – durchbrochen werden kann ist nichts neues. Schon vor dem Hintergrund sollte verwundern, dass angeblich jetzt in dieser zunehmend schweren Krise keinerlei Einschränkung möglich ist. Dabei zeigt der Blick ins Gesetz, dass man durchaus vorbereitet ist.

Dazu muss man vorab wissen, dass schon früh BGH und entschieden haben, dass sich das Interesse an zügiger Durchführung einer Verhandlung und das Interesse der Öffentlichkeit an der Beobachtung einer Verhandlung gleich geordnet gegenüber stehen, also weder das eine noch das andere Überwiegt (siehe dazu §169 GVG im Karlsruher Kommentar, dort Rn.10). Man kann also nicht per se eine Gewichtung vornehmen sondern muss im Einzelfall sehen, wobei sowohl der Präsident des Gerichts als auch der Vorsitzende in jeweils eigener Autonomie die Öffentlichkeit beschränken können. Dabei sieht §172 GVG schon sprachlich diskutable Gründe vor:

Das Gericht kann für die Verhandlung oder für einen Teil davon die Öffentlichkeit ausschließen, wenn (1.) eine Gefährdung der Staatssicherheit, der öffentlichen Ordnung oder der Sittlichkeit zu besorgen ist (1a.) eine Gefährdung des , des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist (…)

§172 GVG

Öffentliche Ordnung

Was die öffentliche Ordnung im Sinne des GVG ist, hat der BGH längst geklärt, bei diesem findet man:

Die Gefährdung der öffentlichen Ordnung setzt voraus, daß aus der Öffentlichkeit der Verhandlung sich eine Wahrscheinlichkeit dafür ergibt, daß die öffentliche Ruhe, Sicherheit oder Ordnung gestört wird, mag sich diese Störung in der Verhandlung selbst oder außerhalb auswirken (…)

BGH, 3 StR 226/81

Dabei ist also nicht nur die öffentliche Sicherheit mit zu Berücksichtigen, die gerade durch die Corona-Krise bedroht ist, sondern ausdrücklich auch, ob störende Wirkungen durch die Verhandlung nach außen in Richtung dieses Schutzgutes zu erwarten sind (Karlsruher Kommentar, §172 GVG, Rn.5). An dieser Stelle ist daran zu erinnern, dass die so genannte „Volksgesundheit“ Bestandteil der öffentlichen Sicherheit ist. Insoweit dürfte im Ergebnis vertretbar sein, wenn der Präsident des Landgerichts sein Hausrecht ausübt, um verstärkte Infektionsraten im Zuge öffentlicher Prozesse zu minimieren (zum Ermessen siehe sogleich!)

Gefährdung des Lebens, des Leibes (…) eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen

Das scheint sprachlich sofort zu passen, dass hier die Justiz zurückhaltend ist, liegt aber sicherlich an einer systematischen Erwägung: Dieser Passus wurde eingeführt im Rahmen der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und passt vor diesem Hintergrund gar nicht hinsichtlich der – wenn auch begründeten Sorge – vor Infektionen. Wenn man auch sprachlich nicht viel drehen muss, tue ich mich hier eher schwer mit einer Anwendung, da aus meiner Sicht eine konkrete Gefährdung für einen Prozessbeteiligten auf Grund des Prozesses oder prozessualen Verhaltens zu befürchten sein müsste; das ist weit entfernt von der abstrakten Gefahr einer Infektion, die alleine auf Basis der Umstände der Durchführung des Prozesses anzunehmen wäre.

Vor dem Hintergrund (man mag es anders sehen!) tendiere ich hier eher zur Ablehnung, denn das tatsächlich betroffene Schutzgut ist mit der von mit zitierten Fundstelle eher in Ziffer 1, in die öffentliche Ordnung, zu subsumieren – und auch passender!

Ermessen ausüben

Das Interessante ist, dass wenn man diesen ersten Schritt sauber geht, sich dann (erst) zwingend im zweiten Schritt das ergibt, was andere schon vorher prüfen würden: Nämlich das Aussetzen nicht dringender Verhandlungen.

Wie geschildert stehen sich Interesse an Verhandlungsführung und Beobachtung gleichgeordnet gegenüber. Es muss also ein Ermessen und eine Abwägung vorgenommen werden. Wenn man nun ein überragendes Interesse der Durchführung annimmt, würde dies für eine Begrenzung der Öffentlichkeit sprechen. Wenn man das Interesse an der Durchführung aber eben nicht als überragend einstuft, würde dies im Rahmen der Abwägung nach meinem Dafürhalten dann das Argument sein, die Sitzung nicht durchzuführen! Das bedeutet: Entweder man hat ein überragendes Interesse, dann wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt; oder man hat ein solches Interesse nicht, dann kann man aber auch gleich aussetzen und ein andermal verhandeln.

Das Ergebnis wäre die Verhandlung etwa in Strafsachen von Haftsachen oder bereits angelaufenen Verfahren die sonst von vorne beginnen müssten. Während alle kleineren Streitigkeiten, etwa OWI-Verfahren oder Bagatell-Strafsachen, ausgesetzt und später verhandelt werden. So würde sich dann am Ende auch eine Abstufung ergeben und eben nicht jedes Verfahren platzen, sondern im Zuge des Ermessens das wirklich Wichtige abgeschichtet werden.

Öffentlichkeit wiederherstellen

Und nun, gibt es wieder Geheimprozesse durch die Hintertüre? Auch das ist abwegig, wenn man sich Gedanken macht: Die am Ende der Abwägung verbliebenen Prozesse sind weiterhin für Journalisten zu öffnen, die dann – vor dem Hintergrund der leeren Zuschauerräume – mit ausreichend Abstand und ausreichenden eigenen Hygienemaßnahmen teilnehmen können.

Kann man auch alles anders sehen

Natürlich kann man das alles anders sehen und in einer ersten Analyse hat zum Beispiel ein sehr geschätzter Kollege sich gegen Beschränkungen der Öffentlichkeit ausgesprochen – allerdings anders als ich, ohne Prüfung der öffentlichen Ordnung. Und auch ich komme ja bei der Gesundheitsgefährdung zu keiner Subsumtion bzw. am Ende der Abwägung dazu, dass man rausfiltern muss, was wirklich Wichtig ist. So wie Übrigens BGH, EGMR und BVerfG, die gerade Verhandlungen verschieben.

Nicht wenige Strafverteidiger werden aufheulen bei den obigen Zeilen. Dabei schreien jedenfalls in meinem Umfeld derzeit ebenso zahlreich Strafverteidiger auf, weil man Mandanten und Besucher dieser Gefährdung aussetzt (und wenn erstmal massenhaft Corona in die Justizvollzugsanstalten eingeschleppt wurde wird es nochmals problematischer).

Und eben das ist es dann auch: Die Justiz macht sich für meinen Geschmack zu wenig öffentliche Arbeit. Die Webseiten sind grossteils leer, die Sorgen der Menschen spiegeln sich hier nicht wider. Zugleich zwingt man Menschen in die Justizzentren, die bei mangelndem Erscheinen mit Zwangs- und Ordnungsmaßnahmen rechnen müssen. Und aus meiner Sicht gibt es genügend Argumentationspotential, um sofort die gerichtlichen Betriebe verfassungsgemäß zu reduzieren.

Anmerkung: Auch an anderer Stelle kann man diskutieren. Wenn ich etwa heute lese, dass Richter die umschreiben möchten, um längere Fristen zu ermöglichen. Man sollte man ausschöpfen was da ist – wenn etwa im neuen §229 Abs.5 StPO wegen technischer Störungen Fristverlängerungen möglich sind, muss man sich nicht verbiegen, um hierunter grundsätzliche organisatorische Abläufe ausserhalb des Wirkungskreises des Vorsitzenden/der Kammer zu subsumieren. Dass dies nur ein ausgefallener Computer sein sollte und eben nicht auch zahlreich erkrankte Wachtmeister ist weder sprachlich noch systematisch zwingend. Aber das ist ein anderes Thema, so wie meine Befürchtung, dass die meisten diesen erst wenige Wochen alten Absatz bisher nicht einmal kennen.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht, Arbeitsrecht und IT-Recht / Technologierecht.