Die Revision im Strafprozess unterliegt strengen Formerfordernissen und Fristen. Dass diese Bindungen nicht nur den Verfahrensbeteiligten, sondern ebenso dem Gericht auferlegt sind, zeigt der Beschluss des 1. Strafsenats des OLG Hamm vom 14. Mai 2025 (1 ORs 9/25) auf eindrucksvolle Weise. Darin hebt das Gericht eine Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO auf, die das Landgericht vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erlassen hatte – und klärt zugleich die prozessuale Konsequenz für die Fortführung des Revisionsverfahrens.
Hintergrund der Entscheidung
Dem Verfahren lag ein typischer Ablauf zugrunde: Nach Versäumung eines Berufungstermins verwarf das Landgericht Dortmund die Berufung der Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO durch Urteil vom 21. November 2024. Gegen dieses Urteil erhob die Angeklagte mit einem beim Gericht am 19. Dezember 2024 eingegangenen Schreiben, das Beleidigungen enthielt und eine zerrissene Urteilsausfertigung beifügte, Revision. Das Landgericht wertete diese Eingabe als Revisionsschrift, sah jedoch keine fristgerechte Begründung und verwarf die Revision mit Beschluss vom 14. Januar 2025 als unzulässig. Eine weitere Eingabe der Angeklagten vom 24. Januar – ebenfalls beleidigend und inhaltsleer – wurde vom Landgericht nicht mehr berücksichtigt.
Die Generalstaatsanwaltschaft wies zutreffend darauf hin, dass die Verwerfungsentscheidung verfrüht ergangen sei, da die Revisionsbegründungsfrist zu diesem Zeitpunkt noch lief. Das OLG Hamm folgte dieser rechtlichen Einschätzung und gab dem Begehren der Angeklagten, als Antrag nach § 346 Abs. 2 StPO verstanden, statt.
Rechtliche Würdigung durch das OLG Hamm
Im Zentrum der Entscheidung steht § 346 StPO, der das Verfahren bei unzulässigen Revisionen regelt. Nach Absatz 1 kann das Ausgangsgericht die Revision als unzulässig verwerfen, wenn etwa die Frist zur Einlegung oder Begründung versäumt wurde. Absatz 2 gewährt dem Revisionsführer aber das Recht, binnen einer Woche nach Zustellung des Verwerfungsbeschlusses die Entscheidung des Revisionsgerichts zu beantragen.
Entscheidend ist nach Auffassung des OLG, dass eine Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO erst nach Ablauf der Begründungsfrist getroffen werden darf. Die Begründungsfrist gemäß § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO beginnt mit Zustellung des angefochtenen Urteils und beträgt einen Monat. Erst nach Ablauf dieser Frist steht fest, ob der Revisionsführer von seinem Recht auf Begründung Gebrauch gemacht hat. Die Möglichkeit, bis zuletzt oder gar in mehreren Schritten zu begründen, verlangt nach einem strikten Fristende, bevor die Zulässigkeit abschließend geprüft werden kann.
Im konkreten Fall wurde das Berufungsurteil am 13. Dezember 2024 zugestellt, sodass die Frist zur Einlegung der Revision am 20. Dezember 2024 endete. Die Frist zur Begründung der Revision lief folglich bis zum 21. Januar 2025. Der Verwerfungsbeschluss datierte jedoch bereits vom 14. Januar 2025 – mithin eine Woche vor Fristablauf. Dies war ein klarer Verstoß gegen § 346 Abs. 1 StPO.
Rechtsfolgen der verfrühten Verwerfungsentscheidung
Das OLG Hamm betont, dass eine vorzeitige Entscheidung nicht automatisch geheilt wird, auch wenn später keine wirksame Begründung mehr nachgereicht wird. Vielmehr sei es dem Revisionsführer nicht zuzumuten, seine Revision noch zu begründen, wenn bereits eine negative Entscheidung vorliegt. Nur wenn die Verwerfungsentscheidung erst nach Ablauf der Frist zugestellt wird und somit keine psychologische Wirkung mehr auf den Revisionsführer entfalten kann, sei eine Ausnahme denkbar.
Da dies hier nicht der Fall war, hob der Senat die Verwerfungsentscheidung auf und stellte klar, dass die Frist zur Begründung der Revision neu zu laufen beginnt, und zwar mit Zustellung des Beschlusses des Revisionsgerichts. Die Angeklagte erhält somit die Gelegenheit, ihre Revision nun innerhalb eines Monats ab Zustellung dieser Entscheidung zu begründen.
Systematische Einordnung
Der Beschluss des OLG Hamm reiht sich in eine gefestigte Rechtsprechung ein, die auf die formelle Strenge der Verfahrensregeln im Revisionsverfahren besteht. Das OLG verweist auf Entscheidungen des BGH und mehrerer Oberlandesgerichte, welche die zeitliche Bindung an das Fristende ebenso betonen. Die Praxis zeigt, dass Fristen in ihrer Gesamtlänge genutzt werden dürfen – insbesondere bei unerfahrenen oder anwaltlich nicht vertretenen Beschwerdeführern. Ein voreiliger Eingriff des Gerichts in diese Fristenstruktur untergräbt die prozessuale Fairness und verletzt das Recht auf effektiven Rechtsschutz.
Schlussfolgerung
Der Beschluss des OLG Hamm stellt klar: Eine Verwerfungsentscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO darf erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erfolgen. Andernfalls ist sie aufzuheben – selbst wenn der Revisionsführer sich in seinen Eingaben unflätig oder unkooperativ verhält. Das Gericht wahrt die Form, nicht aus dogmatischem Starrsinn, sondern zum Schutz der rechtsstaatlich gewährleisteten Verfahrensgarantien. Der Fall verdeutlicht, dass auch formal unzureichende oder ungewöhnlich formulierte Rechtsmittel von der Justiz ernst genommen und mit rechtsförmiger Konsequenz behandelt werden müssen – ein lehrreiches Beispiel für den (leider immer häufiger zu vermissenden) hohen Stellenwert prozessualer Fairness im Strafrecht.
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