Das Landgericht Aachen (60 KLs-806 Js 589/16-12/19) hat recht umfassend klargestellt, dass eine Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte nur nach erfolgter Anhörung geschehen kann, gleich ob die Entscheidung durch das Gericht oder die Staatsanwaltschaft zu treffen ist. Ein solcher Verstoß kann mit dem LG Aachen auch nicht durch die spätere Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung oder im späteren Beschwerdeverfahren geheilt werden.
Zugleich wurde durch das Gericht klargestellt, dass aus der festgestellten Rechtswidrigkeit der Akteneinsichtsgewährung für das vorliegende Strafverfahren kein Beweisverwertungsverbot folgt, da ein solches regelmäßig einen rechtswidrigen Beweiserhebungsakt voraussetzt:
Die Gewährung von Akteneinsicht stellt aber keine Beweiserhebung dar. Aktenkenntnis, im Übrigen auch wenn sie auf zu Recht gewährte Akteneinsicht zurückgeht, ist erforderlichenfalls bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1520; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 11; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 21; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 13; MüKo-StPO/Grau, 1. Aufl. 2019, § 406e Rn. 22).
Landgericht Aachen, 60 KLs-806 Js 589/16-12/19
Anhörung des Beschuldigten for Akteneinsicht Dritter zwingend
Die Gewährung von Akteneinsicht im Strafverfahren an Dritte erfordert regelmäßig die vorherige Anhörung des Beschuldigten:
(…) weil sie mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG i.V. mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 31.01.2017 – 1 BvR 1259/16, NJW 2017, 1164, juris Rn. 17; BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; BVerfG, Beschl. v. 15.04.2005 – 2 BvR 465/05, NStZ-RR 2005, 242, juris Rn. 12; BVerfG, Beschl. v. 26.10.2006 – 2 BvR 67/06, NJW 2007, 1052, juris Rn. 9; KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; LG Karlsruhe, Beschl. v. 25.09.2009 – 2 AR 4/09, juris Rn. 24; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK-StPO/Zabeck, 8. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3; MüKo-StPO/Grau, 1. Aufl. 2019, § 406e Rn. 20; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 4). Bei einer Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht durch den Vorsitzenden des mit der Sache befassten Gerichts ergibt sich die Anhörungspflicht unmittelbar aus § 33 Abs. 3 StPO, bei einer Entscheidung durch die Staatsanwaltschaft aus einer analogen Anwendung der vorgenannten Bestimmung (vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 13.07.2017 – 20 Ws 146/17, juris Rn. 32; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 3; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 18; KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3) bzw. aus dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. hierzu Riedel/Wallau, NStZ 2003, 393, 397 f.; zu den Anhörungspflichten in Verfahren vor dem Rechtspfleger vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.01.2000 – 1 BvR 321/96, BVerfGE 101, 397 = NJW 2000, 1709). Die Anhörungspflicht folgt ferner aus dem Gebot der Sachaufklärung im Hinblick auf möglicherweise bestehende Versagungsgründe und der nach § 406e Abs. 2 StPO erforderlichen Interessenabwägung (vgl. KG, Beschl. v. 02.10.2015 – 4 Ws 83/15, NStZ 2016, 438, juris Rn. 6; L-R/Wenske, StPO, 26. Aufl. 2014, § 406e Rn. 4; Sankol, MMR 2008, 836, 837).
Keine Heilung durch Verfahrensfortgang
Ein Verstoß gegen die Pflicht zur Anhörung des Beschuldigten vor Gewährung der Akteneinsicht kann durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden:
Soweit in der Rechtsprechung ohne nähere Begründung davon ausgegangen wird, dass zunächst versagtes rechtliches Gehör nachgeholt (so BGH, Beschl. v. 11.01.2005 – 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519, 1520; für die Gewährung von Akteneinsicht durch das mit der Sache befasste Gericht vgl. BGH, Beschl. v. 10.10.1990 – 1 StE 9/88, NStZ 1991, 95) und ein Verstoß gegen die Anhörungspflicht dadurch geheilt werden kann (so LG Stralsund, Beschl. v. 10.01.2005 – 22 Qs 475/04, juris Rn. 11), vermag die Kammer dem nicht zu folgen. Die unterlassene Anhörung des Angeklagten stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der jedenfalls durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann (so zutreffend BVerfG, Beschl. v. 30.10.2016 – 1 BvR 1766/14, juris Rn. 5; LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; implizit auch LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290; so nunmehr auch KK-StPO/Gieg, 8. Aufl. 2019, § 478 Rn. 3). Der Anspruch auf rechtliches Gehör erfordert es, dass der durch eine staatliche Maßnahme Betroffene vor deren Erlass die Möglichkeit zur Stellungnahme erhält (vgl. BVerfG, Beschl. v. 03.11.1983 – 2 BvR 348/83, BVerfGE 65, 227 = NJW 1984, 719, juris Rn. 20; BeckOK-StPO/Larcher, § 33 Rn. 1). Im Hinblick hierauf ist für eine Heilung durch eine nachträgliche Gehörsgewährung kein Raum. Allenfalls könnte davon ausgegangen werden, dass auch unter Berücksichtigung des „nachgeholten Vorbringens“ die Gewährung der Akteneinsicht im Ergebnis, also in materieller Hinsicht, zu Recht erfolgt ist, wobei in diesem Zusammenhang insbesondere die Frage zu klären wäre, ob eine Aktenkenntnis des Verletzten in der Konstellation „Aussage-gegen-Aussage“ der Gewährung von Akteneinsicht entgegensteht (vgl. hierzu etwa KG, Beschl. v. 21.11.2018 – 3 Ws 278/18, NStZ 2019, 110; LG Hamburg, Beschl. v. 23.04.2018 – 606 Qs 8/18, NStZ-RR 2018, 322; Baumhöfener/Daber/Wenske, NStZ 2017, 562 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, 62. Aufl. 2019, § 406e Rn. 12 m.w.Nachw.). Die Richtigkeit der Gewährung von Akteneinsicht in materieller Hinsicht mag im Rahmen etwaiger (Staats-)Haftungsansprüche des durch die Akteneinsicht Betroffenen von Bedeutung sein („rechtmäßiges Alternativverhalten“), ändert aber nichts daran, dass die Gewährung der Akteneinsicht rechtswidrig erfolgt ist. Für die im Rahmen des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung maßgebliche Feststellung der Rechtswidrigkeit kommt es alleine darauf an, dass die durch die Staatsanwaltschaft gewährte Akteneinsicht in formeller Hinsicht rechtswidrig ist (vgl. LG Wuppertal, Beschl. v. 23.12.2008 – 22 AR 2/08, juris Rn. 4; LG Krefeld, Beschl. v. 01.08.2008 – 21 AR 2/08, NStZ 2009, 112; LG Dresden, Beschl. v. 06.10.2005 – 3 AR 8/05, StV 2006, 11, 13 sub 3); AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290). Ebenso ist unerheblich, ob der Angeklagte bei Gewährung rechtlichen Gehörs etwas hätte vorbringen können, das die Entscheidung der Staatsanwaltschaft in eine andere Richtung hätte beeinflussen können (vgl. AG Zwickau, Beschl. v. 12.04.2013 – 13 Gs 263/13, StraFo 2013, 290, juris Rn. 4).
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