Der Begriff der Vernehmung im Lichte des Anwesenheitsrechts des Angeklagten

Anwesenheitsrecht in der Hauptverhandlung: Nach deutschem Strafprozessrecht gehört das Anwesenheitsrecht des Angeklagten zu den tragenden Säulen eines fairen Strafverfahrens. Es ist Ausdruck seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und Teil der Gewährleistung einer wirksamen Verteidigung (Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK). Der Angeklagte darf grundsätzlich an allen wesentlichen Verfahrenshandlungen teilnehmen, insbesondere an der Beweisaufnahme (§ 230 Abs. 1 StPO).

Dieses Recht dient nicht nur seinem persönlichen Informationsinteresse, sondern auch der prozessualen Möglichkeit, spontan zu reagieren, Rückfragen zu stellen, Einwände zu erheben oder Verteidigungsanträge zu stellen. Daher wird jeder Eingriff in dieses Recht restriktiv gehandhabt und nur unter engen gesetzlichen Voraussetzungen erlaubt.

Ausnahme: § 247 StPO – Schutz bestimmter Zeugen

Die Vorschrift des § 247 StPO erlaubt es ausnahmsweise, den Angeklagten während der Vernehmung bestimmter besonders schutzbedürftiger Zeugen aus dem Sitzungssaal zu entfernen. Dies kann etwa aus Rücksicht auf den psychischen Zustand des Zeugen geboten sein, insbesondere bei Opfern schwerer Sexualstraftaten oder bei kindlichen Zeugen.

Die Maßnahme ist ein erheblicher Eingriff, denn sie suspendiert zeitweise das Anwesenheitsrecht. Deshalb muss die Kammer sorgfältig prüfen, ob der Schutz des Zeugen tatsächlich nur so gewährleistet werden kann. Nach Satz 2 der Vorschrift erstreckt sich die Erlaubnis ausdrücklich auf die Vernehmung des Zeugen, nicht pauschal auf andere Prozesshandlungen.

Der Streitpunkt: Was gehört zur „Vernehmung“?

In der Praxis stellt sich häufig die Frage: Was fällt alles unter die „Vernehmung“? Ist es nur das Fragestellen und Beantworten — oder auch das Betrachten des Zeugen, wenn dessen Erscheinung selbst Beweisbedeutung hat?

Im vorliegenden Fall (BGH, Beschluss vom 26. März 2025 – 4 StR 29/25) war genau das entscheidend:
Die minderjährige Zeugin wurde zunächst in Abwesenheit des Angeklagten befragt. Anschließend betrachtete das Gericht sie „förmlich“ – um zu beurteilen, ob der Angeklagte ihr jugendliches Alter hätte erkennen müssen. Der Angeklagte rügte: Für diesen „Augenschein“ hätte er wieder zugelassen werden müssen.

Entscheidung des BGH

Der BGH präzisiert hier den Begriff „Vernehmung“ im Sinne von § 247 Satz 2 StPO:

  • Die Vernehmung umfasst auch die Inaugenscheinnahme der Person, soweit deren Erscheinung Teil der Beweiswürdigung ist.
  • Der Schutzzweck des § 247 StPO würde unterlaufen, wenn man den Angeklagten zwar während der Befragung fernhält, ihn aber unmittelbar danach zulässt, um die Zeugin persönlich zu betrachten.
  • Eine isolierte Augenscheinseinnahme der Person ist in solchen Fällen keine eigenständige Beweiserhebung, sondern Bestandteil der Vernehmung. Das betrifft insbesondere die visuelle Wahrnehmung körperlicher Merkmale, die typischerweise während der Befragung miterfasst wird.

Der BGH betont: Würde man hier einen Unterschied machen, müsste das Gericht faktisch eine erneute Konfrontation arrangieren — genau das soll § 247 verhindern. Der Opferschutz geht in dieser Konstellation dem Anwesenheitsinteresse vor.

Rechtsanwalt Jens Ferner, TOP-Strafverteidiger und IT-Rechts-Experte - Fachanwalt für Strafrecht und Fachanwalt für IT-Recht

Die „Vernehmung“ im Sinne des § 247 Satz 2 StPO ist funktional zu verstehen: Sie erfasst jede Wahrnehmung der Person des Zeugen, soweit sie Beweisbedeutung hat. Ein Angeklagter hat keinen Anspruch, bei einem isolierten Augenschein dabei zu sein, wenn dies den Schutzzweck der Maßnahme konterkarieren würde. Also: Zulässig ist der Ausschluss nur, wo er zwingend erforderlich ist.

Verortung im strafprozessualen System

Die Abgrenzung hat praktische Bedeutung:

  • Während andere Eingriffe in das Anwesenheitsrecht (z. B. dauerhafter Ausschluss von Teilen der Öffentlichkeit, § 171b GVG) besonders strenge Anforderungen an Dauer und Begründung stellen, soll die Anwendung von § 247 flexibel Schutzbedürfnisse berücksichtigen.
  • Die Rechtsprechung wahrt dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Nur so weit wie nötig darf der Angeklagte ausgeschlossen werden. Ein späterer „Ergänzungs-Augenschein“ müsste dann ebenfalls zwingend unter Opferschutzgesichtspunkten geprüft werden.
  • In der Praxis bedeutet das: Eine sorgfältige Abwägung der Belastung der Zeugin mit dem Anwesenheitsrecht des Angeklagten ist Pflicht — der Beschluss muss tragfähig begründet sein.
Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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Rechtsanwalt Jens Ferner ist erfahrener Fachanwalt für Strafrecht sowie Fachanwalt für IT-Recht mit über einem Jahrzehnt Berufspraxis und widmet sich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht - mit Schwerpunkten in Cybercrime, Cybersecurity, Softwarerecht und Managerhaftung. Er ist zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht sowie zur EU-Staatsanwaltschaft. Als Softwareentwickler ist er in Python zertifiziert und hat IT-Handbücher geschrieben.

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