Bewährungswiderruf bei Gesamtstrafe

Neu postiert hat sich das OLG Celle zur Frage des Widerrufs einer bei einer Gesamtstrafe: Es ist bisher in der Rechtsprechung umstritten, ob der Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer weiteren Straftat des Verurteilten allenfalls dann möglich ist, wenn diese Tat innerhalb der Bewährungszeit sämtlicher dem Gesamtstrafenbeschluss zugrundeliegender Verurteilungen liegt;

oder ob es vielmehr ausreicht, dass diese Tat innerhalb der Bewährungszeit des als erstes ergangenen einbezogenen Urteils, aber noch vor dem bzw. den nachfolgenden einbezogenen Entscheidungen begangen wurde (so: OLG Hamm, 3 Ws 304/14; OLG Stuttgart, 4 Ws 293/18; OLG Bremen, 1 Ws 111/19).

Der Widerruf von Bewährungen gehört zum strafprozessualen Alltag – allerdings ist hier nach unserer Erfahrung viel verstecktes Potenzial – das wegen der kurzen Beschwerdefrist oft untergeht! Gerade Amtsgerichte unterschätzen die besonderen Umstände und nehmen gerne vorschnell, etwa bei nur mangelndem Kontakt mit dem Bewährungshelfer, einen Widerrufsgrund an. Beachten Sie unseren zusammenfassenden Beitrag zum Thema Bewährungswiderruf.

Während das OLG Celle es früher anders gesehen hat, ist man nun der Auffassung, dass die besseren Argumente dafür sprechen, die Widerrufsmöglichkeit auch auf Fallkonstellationen zu erstrecken, in denen die neue Tat nur in die Bewährungszeit der zeitlich ersten einbezogenen Entscheidung fällt:

Bereits der Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB streitet hierfür. Denn als Voraussetzung für den Widerruf wird hier ausdrücklich lediglich auf die Begehung einer weiteren Straftat im Zeitraum zwischen der Strafaussetzung zur Bewährung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, nicht aber auf die Strafaussetzung in sämtlichen einbezogenen Urteilen Bezug genommen. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Neufassung des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB auch eine Fassung in Betracht gezogen worden war, nach der dementgegen nur Straftaten, die in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung „in den einbezogenen Urteilen“ und der Gesamtstrafenentscheidung einen Widerruf ermöglichen sollten (vgl. BT-Drucks. 10/2720, S. 22), zeigt die letztlich geschaffene Regelung, dass der Gesetzgeber sich bewusst unter diesen Alternativen dafür entschieden hat, bereits in der Bewährungszeit einer der einbezogenen Entscheidungen begangene Straftaten für einen Widerruf der Bewährung ausreichen zu lassen (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58). Im Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB kommt daher auch der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck.

Nicht entgegen steht, dass durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf den Widerrufsgrund des § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB verwiesen wird, wonach eine erneute Straftat nur dann einen Widerruf begründen kann, wenn sie nach der zum Widerrufszeitpunkt maßgeblichen Aussetzungsentscheidung, im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung also nach dem Gesamtstrafenbeschluss, begangen worden ist. Denn § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB gilt ausweislich § 56f Abs. 1 S. 2 StGB nur entsprechend, ist also nur sinngemäß anzuwenden. Dies lässt durchaus die Auslegung zu, dass es nach der Bildung einer Gesamtstrafe nicht auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung, sondern auf die erstmalige Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung ankommt. Denn bereits von diesem Zeitpunkt an war der Verurteilte gewarnt und musste sich bewusst sein, dass neue Straftaten zu einer Vollstreckung der verhängten führen können. Dass dem Verurteilten trotz dieser Kenntnis bis zu dem Zeitpunkt einer weiteren Verurteilung, aus der später gemeinsam mit der ersten Verurteilung eine Gesamtstrafe gebildet wird, eine Phase der Konsequenzlosigkeit weiterer Straftaten für die ihm gewährte Bewährung eingeräumt werden soll, erscheint als nicht nachvollziehbar. Dies gilt umso mehr, als dem Verurteilten auch die Begehung der zur zweiten, einbezogenen Verurteilung führenden Straftaten bereits zum Zeitpunkt seiner ersten Verurteilung bekannt war und er deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Aussetzungsentscheidung haben konnte.

Hierfür spricht auch, dass § 57 Abs. 5 StGB für den Fall des Widerrufs der einer Reststrafe zur Bewährung gleicherweise die entsprechende Anwendung des § 56f StGB anordnet, hierbei aber ausdrücklich auch eine zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung begangene weitere Tat für einen Widerruf der Bewährung ausreichen lässt, sofern das aussetzende Gericht von der zwischenzeitlich begangenen Straftat keine Kenntnis hatte. Diese Wertung, dass auch vor der letzten Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung begangene Straftaten zu einer Abänderung der Bewährungsentscheidung führen können, wenn zum Zeitpunkt dieser Entscheidung der einer Aussetzung entgegenstehende Umstand der Begehung weiterer Straftaten seit der Verurteilung nicht bekannt war, lässt sich auf die durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB gleichfalls angeordnete entsprechende Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 1 StGB übertragen.

Denn auch hier liegt der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung die Unkenntnis von neuen Straftaten des Verurteilten zugrunde. Auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung ist daher für die Möglichkeit eines Widerrufs aufgrund einer zwischen Verurteilung und Gesamtstrafenbildung begangenen weiteren Straftat nur dann abzustellen, wenn die Entscheidung über die Gesamtstrafenbildung in Kenntnis der zwischenzeitlich begangenen weiteren Tat erfolgte, das Gericht also bewusst trotz der erneuten Tatbegehung weiterhin eine positive Prognoseentscheidung getroffen hat.

Schließlich spricht für die Auffassung, dass bereits die Begehung einer weiteren Straftat nach der zeitlich ersten einbezogenen Verurteilung für einen Widerruf der später durch eine Gesamtstrafenentscheidung gewährten Strafaussetzung zur Bewährung ausreicht, dass § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB sowohl auf eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch Beschluss gemäß § 460 StPO als auch auf eine Gesamtstrafenbildung im Rahmen der Einbeziehung einer vorangegangenen Entscheidung durch ein Urteil gemäß § 55 StGB Anwendung findet (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58).

Der Gesetzgeber zeigt durch diese Erstreckung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf die Fälle des § 55 StGB, dass es für den Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe gerade nicht darauf ankommen soll, ob der Verurteilte die in ihn gesetzte Erwartung eines künftig straffreien in sämtlichen der Gesamtstrafenentscheidung zugrundeliegenden Urteilen enttäuscht hat (so noch: Senat a.a.O.), sondern bereits die Enttäuschung dieser Erwartung in der ersten Verurteilung zu einem Widerruf der in einer später unter Einbeziehung dieser Verurteilung gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erfolgten Aussetzung zur Bewährung führen kann und die von der ersten Verurteilung ausgehende Warnfunktion ausreichen soll.

Denn im Falle der Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB durch ein Urteil ist die zweite Verurteilung mit der Gesamtstrafenentscheidung identisch. Eine weitere Tat zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, die gemäß § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB einen Widerruf begründen kann, liegt bei einer Gesamtstrafenbildung durch § 55 StGB daher praktisch immer nach der ersten, aber noch vor der zweiten Verurteilung.

Auf Gesamtfreiheitsstrafen, die gemäß § 55 StGB gebildet werden, wäre § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB daher ohne relevanten Anwendungsbereich, wenn zu fordern wäre, dass die weitere Tat nach sämtlichen Verurteilungen, aber noch vor Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung begangen worden ist. Denkbar wäre eine Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB insofern allenfalls noch bei der Begehung einer weiteren Straftat zwischen Verkündung und Rechtskraft der zweiten Verurteilung. Dass der Gesetzgeber aber den Anwendungsbereich derart einschränken wollte, ist nicht anzunehmen.

OLG Celle, 2 Ws 181/22
Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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