Eine bisher kaum beachtete Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm, 4 RVs 10/21, lässt im Sexualstrafrecht aufhorchen. Hier wird einmal mehr gezeigt, wie wichtig ein erfahrener Strafverteidiger im Sexualstrafrecht beim Vorwurf der Vergewaltigung ist – und wie weitreichend die Rechtsprechung die – ohnehin zunehmend konturlosen – Tatbestände anwenden möchte:
- Die Vorschrift des § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.
- Eine erhebliche Einschränkung der Fähigkeit zur Bildung oder Äußerung des Willens i.S.v. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist gegeben, wenn die Fähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden und zu äußern gegenüber Personen ohne eine Beeinträchtigung deutlich herabgesetzt – aber noch nicht aufgehoben – ist. Dies kann namentlich daran liegen, dass das Tatopfer zustandsbedingt die Situation nicht in ihrer Tragweite oder nicht schnell genug erfasst oder Wahrnehmungsstörungen hat. Es kann auch daran liegen, dass es wegen kurzzeitiger Bewusslosigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen etc. in der Willensbildung oder Willensäußerung eingeschränkt ist.
- Die tatrichterliche Wertung, dass der Täter einen Zustand des Opfers im Sinne v. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB ausgenutzt hat, setzt bzgl. des Vorliegens des Zustands eine umfassende Gesamtwürdigung aller Umstände, auch solcher, die gegen das Vorliegen eines solchen Zustands sprechen können, voraus.
Die wahre Tragik solcher Rechtsprechung zeigt sich in den Urteilsausführungen dann in ganzer Pracht:
Was unter einer erheblichen zustandsbedingten Einschränkung der Willensbildungs- oder Willensäußerungsfähigkeit zu verstehen ist, lässt sich vornehmlich im Wege der historischen Auslegung hinreichend den Gesetzesmaterialien entnehmen.
Danach muss das Opfer nicht absolut unfähig sein, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern. Diese Fähigkeit muss aber erheblich eingeschränkt sein. Diese Erheblichkeit soll vorliegen, wenn die Einschränkung aus objektiver Sicht offensichtlich auf der Hand liegt und sich dem unbefangenen Beobachter ohne Weiteres aufdrängt. Nach der Gesetzesbegründung sollen etwa Menschen mit solchen Behinderungen erfasst werden, die mit einer erheblichen Intelligenzminderung einhergehen, aber auch stark betrunkene Menschen, deren Trunkenheitsgrad die Fähigkeit zur Willensbildung oder -äußerung nicht absolut ausschließt (BT-Drs. 18/9097 S. 24). Des Weiteren stellt schon der Gesetzgeber selbst eine Parallele zu den §§ 20, 21 StGB her (vgl. BT-Drs. a.a.O.), die sich nicht zuletzt angesichts der gewählten Begrifflichkeiten aufdrängt (vgl. insoweit auch: Hörnle NStZ 2017, 13, 17; Renzikowski a.a.O.; Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rdn. 34).
Ähnlich, wie bei der erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit i.S.v. § 21 StGB danach gefragt wird, ob das Hemmungsvermögen des Täters im Vergleich zu Personen ohne einen Defektzustand so deutlich herabgesetzt ist, dass der Täter den Tatanreizen deutlich weniger Widerstand leisten kann, ist bzgl. der vorliegenden Problematik bei § 177 Abs. 2 Nr.2 StGB danach zu fragen, ob die Fähigkeit des Opfers, einen entgegenstehen Willen zu bilden und zu äußern, im Vergleich zu Personen ohne eine Beeinträchtigung deutlich herabgesetzt ist (so auch: Lackner/Kühl/Heger, StGB, 29. Aufl., § 177 Rdn. 8; Renzikowski in: Hilgendorf/Kudlich/Valerius, Handbuch des Strafrechts Band 4, 1. Aufl., 2019, 3. Abschnitt., § 9 C.II.3.b.). Die Gründe dafür können vielfältiger Natur sein: So wird je nach Art des Zustands beispielsweise die Erfassung der Situation schon schwieriger sein oder länger dauern als bei einer Person in einem „Normalzustand“. Es kann zudem zu Wahrnehmungsstörungen und zu einem gestörten Urteilsvermögen kommen. Auch erscheint – gerade bei einer entsprechenden Alkoholisierung – gut denkbar, dass das Opfer immer wieder zwischenzeitlich kurz einschläft, erhebliche Schwindelanfälle oder Kopfschmerzen hat, die z.B. die Bildung eines entgegenstehenden Willens erheblich erschweren. Es geht dem Gesetzgeber also um Fälle, in denen dem Tatopfer die Bildung oder Äußerung eines entgegenstehenden Willens – wenn auch unter erschwerten Bedingungen – möglich ist, das Opfer aber zustandsbedingt noch keinen entgegenstehenden Willen gebildet oder diesen zu erkennen gegeben hat.
Diese Rechtsprechung auf den Punkt gebracht würde bedeuten, dass ein vermeintliches Vergewaltigungsopfer zwar zuvor eingewilligt hat, es sich später aber anders überlegt hat und darauf verweisen kann, etwa auch nur wegen Kopfschmerzen vorschnell „ja“ gesagt zu haben – losgelöst davon, ob dies für den Sexualpartner erkennbar war.
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