Berufsrecht: Der Rechtsanwalt kennt das Recht – der Richter nicht

Der Bundesgerichtshof sieht Anwälte in der Pflicht, Rechtsausführungen vorzubringen um richterliche Irrtümer zu vermeiden.

Es gibt wohl kaum eine grössere Anerkennung für die Anwaltschaft als die Entscheidung des BGH (IX ZR 272/14), mit welcher der BGH den Richtern in Deutschland eine Fehlerhaftigkeit attestiert, die man Anwälten nicht zuschreiben möchte. Eigentlich gilt ja der Grundsatz „Der Richter kennt das Recht“ („iura novit curia“) und bedeutet, dass man im Extremfall nur den „richtigen“ Tatsachenvortrag vorbringen muss, ohne irgendwelche rechtlichen Ausführungen, weil der Richter ohnehin in Rechtskenntnis korrekt entscheiden wird.

Das sieht der BGH anders, der erst einmal sehr unschuldig im Leitsatz formuliert

Die Verpflichtung des Rechtsanwalts, die zugunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte so umfassend wie möglich darzustellen, erfährt durch Grundsatz „iura novit curia“ keine Einschränkung.

Was da so harmlos klingt, entpuppt sich im Folgenden als eine Entscheidung die nicht nur sprachlos sondern darüber hinaus Fassungslos macht: Der Rechtsanwalt soll gezwungen sein, umfassend die rechtliche Würdigung vorzunehmen. Tut er dies nicht und begeht der Richter einen Fehler, so haftet am Ende der Rechtsanwalt. Denn Richter haben nur begrenzte Erkenntnismöglichkeiten.

In der Entscheidung liest sich das so:

Zwar weist die Zivilprozessordnung die Entscheidung und damit die rechtliche Beurteilung des Streitfalls dem Gericht zu; dieses trägt für sein Urteil die volle Verantwortung. Es widerspräche jedoch der rechtlichen und tatsächlichen Stellung der Prozessbevollmächtigten in den Tatsacheninstanzen, würde man ihre Aufgabe allein in der Beibringung des Tatsachenmaterials sehen. Der Möglichkeit, auf die rechtliche Beurteilung des Gerichts Einfluss zu nehmen, entspricht im Verhältnis zum Mandanten die Pflicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Mit Rücksicht auf das auch bei Richtern nur unvollkommene menschliche Erkenntnisvermögen und die niemals auszuschließende Möglichkeit eines Irrtums ist es Pflicht des Rechtsanwalts, nach Kräften dem Aufkommen von Irrtümern und Versehen des Gerichts entgegenzuwirken. Dies entspricht auch dem in § 1 Abs. 3 BORA zum Ausdruck gekommenen Selbstverständnis der Anwaltschaft (…)

Im Zivilprozess obliegt die Beibringung des Tatsachenstoffs in erster Linie der Partei. Der für sie tätige Rechtsanwalt ist über den Tatsachenvortrag hinaus verpflichtet, den Versuch zu unternehmen, das Gericht davon zu überzeugen, dass und warum seine Rechtsauffassung richtig ist (…) Daher muss der Rechtsanwalt alles – einschließlich Rechtsausführungen – vorbringen, was die Entscheidung günstig beeinflussen kann (…) Kann die auf verschiedene rechtliche Gesichtspunkte gestützt werden, ist der Sachvortrag so zu gestalten, dass alle in Betracht kommenden Gründe im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten konkret dargelegt werden (…) Hat der Rechtsanwalt eine ihm übertragene Aufgabe nicht sachgerecht erledigt und auf diese Weise zusätzliche tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hervorgerufen, sind die dadurch ausgelösten Wirkungen ihm grundsätzlich zuzurechnen. Folglich haftet er für die Folgen eines gerichtlichen Fehlers, sofern dieser auf Problemen beruht, die der Rechtsanwalt durch eine Pflichtverletzung erst geschaffen hat oder bei vertragsgemäßem Arbeiten hätte vermeiden müssen (…)

Etwaige Versäumnisse des Gerichts schließen die Mitverantwortung des Rechtsanwalts für eigenes Versehen grundsätzlich nicht aus (…) Der Verpflichtung, „das Rechtsdickicht zu lichten“, ist der Rechtsanwalt folglich nicht wegen der dem Gericht obliegenden Rechtsprüfung („iura novit curia“) enthoben (…)

Die Entscheidung geht aus meiner Sicht vollkommen an der Rechtslage vorbei und wirft zudem die Frage auf, welche Aufgaben die Richterschaft noch hat, wenn am Ende ohnehin die Rechtskenntnis den Anwälten obliegt. Ich weiss auch nicht, wie man hiermit umgehen soll: Soll man nun jedem Schriftsatz ein kommentiertes BGB beifügen und noch Klebchen einfügen, wo das Gericht nachzulesen hat?

Losgelöst davon, dass das Gericht die Rechtsprechung des BVerfG – wieder einmal – ignoriert hat (dazu sogleich), so werden auch die prozessualen Umstände vollkommen verdrängt. Es gibt nicht ohne Grund eine gerichtliche Hinweispflicht in §139 ZPO. Ich sehe es als durchaus angebracht an, von einem Rechtsanwalt zu verlangen, nach einem gerichtlichen Hinweis weitere rechtliche Standpunkte für seine Auffassung vorzubringen. Aber ins Blaue hinein zu verlangen, dass man auch noch quasi vorhersieht, was das Gericht sich denkt und welche Fehler es hierbei möglicherweise macht, ist nicht nur juristischer Unfug, sondern faktisch unmöglich.

Das BVerfG (1 BvR 399/02) hat sich dazu schon einmal kritisch geäußert:

Verfassungsrechtlich bedenklich ist ist allerdings die Auffassung des Bundesgerichtshofs, dass rechtsfehlerhaftes Unterlassen eines Gerichts, das die Folgen eines anwaltlichen Fehlers perpetuiert, obwohl ihr Eintritt durch prozessordnungsgemäße Beweisaufnahme hätte verhindert werden können, haftungsrechtlich unbeachtlich ist. Vorliegend hätte sich dem die Frage aufdrängen müssen, ob in die Berufsausübungsfreiheit eines Rechtsanwalts eingegriffen wird, wenn er für eine missverständliche Formulierung haftbar gemacht wird, obwohl sie bei fehlerfreiem Verhalten des Gerichts nicht zum Schadenseintritt geführt hätte. Auch wenn eine Amtshaftung wegen des Richterprivilegs regelmäßig ausscheidet, legitimiert dies nicht die Haftungsverschiebung zu Lasten der Rechtsanwälte, ohne in Rechnung zu stellen, dass hierbei deren Grundrechte berührt werden. Auch als „Organe der Rechtspflege“ (§ 1 BRAO) haften die Rechtsanwälte nicht ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung, nur weil sie haftpflichtversichert (§ 51 BRAO) sind.

Nun, wie man beim Bundesgerichtshof gelernt hat, sind Richter Fehlerhaft und ohne Rechtskenntnis – da darf man nicht erwarten, dass solche klaren Worte Berücksichtigung finden. An Kollegen bleibt nur der Rat, lieber auf Masse statt auf Qualität zu setzen, bei solcher Rechtsprechung sollte man lieber zu viel auch in rechtlicher Hinsicht vorbringen, als darauf zu vertrauen, dass das Gericht die Rechtslage kennt.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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