BVerfG rügt Amtsgericht Stuttgart: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Kammerbeschluss vom 16. April 2025 (Az. 2 BvR 845/22) entschieden, dass die unterlassene Benachrichtigung nahestehender Personen bei der Anordnung von Abschiebungshaft eine Verletzung von Artikel 104 Absatz 4 des Grundgesetzes (GG) darstellt. Der Fall bietet Anlass, sich mit der grundrechtlichen Bedeutung der Benachrichtigungspflicht bei Freiheitsentziehungen auseinanderzusetzen und deren verfassungsgerichtliche Durchsetzung zu analysieren.
Sachverhalt
Dem Verfahren lag die Inhaftierung eines afghanischen Staatsbürgers zugrunde, der nach einem gescheiterten Asylverfahren und infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Am 25. Februar 2021 ordnete das Amtsgericht Stuttgart die Abschiebungshaft an, versäumte es jedoch, eine nahestehende Person des Betroffenen über die Inhaftierung zu benachrichtigen. Auch die Anhörung des Betroffenen zur Frage einer gewünschten Benachrichtigung wurde nur unzureichend dokumentiert.
Der Betroffene wandte sich zunächst erfolglos an das Landgericht Stuttgart, das seinen Antrag auf Feststellung der Grundrechtsverletzung zurückwies. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte – und erhielt nun teilweise Recht.
Rechtliche Würdigung
Verletzung von Art. 104 Abs. 4 GG
Artikel 104 Absatz 4 GG verpflichtet staatliche Stellen bei jeder Freiheitsentziehung dazu, unverzüglich einen Angehörigen oder eine Person des Vertrauens des Betroffenen zu benachrichtigen. Diese Vorschrift dient der Kontrolle staatlicher Freiheitsentziehungen und der Sicherung rechtsstaatlicher Mindeststandards im Umgang mit inhaftierten Personen.
Das BVerfG stellte klar, dass diese Pflicht nicht lediglich deklaratorisch, sondern rechtsverbindlich ist. Das Amtsgericht habe die grundgesetzlich normierte Pflicht schlicht ignoriert. Weder sei eine Benachrichtigung erfolgt, noch sei dokumentiert worden, ob und wie der Betroffene hierzu befragt wurde.
Versäumnisse der Fachgerichte
Bemerkenswert ist, dass auch das Landgericht Stuttgart mit Beschluss vom 13. April 2022 (Az. 10 T 83/21) in seiner Entscheidung eine Grundrechtsverletzung nicht sah und den Antrag des Betroffenen ablehnte. Das BVerfG stellte jedoch fest, dass auch dieses Vorgehen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 104 Abs. 4 GG i.V.m. Art. 19 Abs. 4 GG verletzte. Die Rückweisung des Begehrens ohne tiefgehende Auseinandersetzung mit der unterlassenen Benachrichtigungspflicht war aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht tragfähig.
Verfahrensrechtliche Implikationen
Die Entscheidung betont auch die Bedeutung einer verfahrensrechtlich sauberen Dokumentation durch die Gerichte. Insbesondere bei Grundrechtseingriffen muss die gerichtliche Anhörung umfassend dokumentiert werden. Das Unterlassen einer lückenlosen Protokollierung – wie im vorliegenden Fall – unterminiert die gerichtliche Nachprüfbarkeit und gefährdet den effektiven Rechtsschutz.
Die Ausbeute dieser Entscheidung liegt in der klaren Mahnung an die Justiz, die formellen Anforderungen bei Freiheitsentziehungen strikt zu beachten. Sie illustriert, dass Grundrechte auch in der verfahrensrechtlichen „Routine“ zwingend zu wahren sind – ein zentraler Pfeiler eines rechtsstaatlichen Systems.
Fazit
Die Konklusion des BVerfG verdeutlicht: Die Verpflichtung zur Benachrichtigung nahestehender Personen bei Inhaftierungen ist keine bloße Förmlichkeit, sondern ein substantielles Grundrecht mit Kontrollfunktion. Das Urteil unterstreicht die verfassungsrechtliche Dimension scheinbar verfahrensrechtlicher Details und mahnt zur sorgfältigen gerichtlichen Praxis. Die Entscheidung stärkt zudem die Bedeutung des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG.
- Opensource-Software-Compliance - 17. Juni 2025
- Systematik der Konkurrenzen bei mitgliedschaftlicher Beteiligung - 17. Juni 2025
- Teilnahme an Telemedizinplattform durch Apotheker - 17. Juni 2025