Sommerserie 2015 (Teil 1): Strafprozess und Gerechtigkeit

Seit einiger Zeit lese ich bei der ZEIT-Online eine Reihe „Fischer im Recht“ – dabei fällt mir zunehmend auf, dass ich gegen die dortigen Texte eine gewisse Abneigung entwickle. Nicht unbedingt weil dort falsches steht, oder weil der Autor – jedenfalls für mich – auffällig häufig monetäre Fragen, etwa der eigenen Besoldung, in den Vordergrund stellt. Vielmehr fand ich die ursprüngliche Idee, dass ein bekannter und anerkannter Bundesrichter die Themen Recht und Gerechtigkeit einem breiten Publikum zugänglich macht sehr attraktiv; allein: Diese Idee ging für mich irgendwo zwischen Selbstreflexion, langen Schwurbeltexten und dem Rumreiten auf Einkommensfragen verloren.

Ich habe gar konkrete Zweifel, dass jemand der keine sprachliche Ausbildung genossen hat, überhaupt den sprachlich anspruchsvollen Texten folgen kann – und dass am Ende erreicht wird, was gerade überwunden werden sollte: Der Eindruck einer weltfremden Jurisprudenz, die sich mit sich selbst derart beschäftigt, dass sie gar nicht merkt, wie wenig zugänglich sie denjenigen ist, die täglich it ihr konfrontiert sind. Nach langer Zeit in der ich nur Urteile beschrieben oder aufgegriffen habe, möchte ich daher einige Themen die mich interessieren, hier in Form einer Beitragsreihe verkürzt aufgreifen. Nicht mit dem arroganten Anspruch, sie abschliessend klären oder wenigstens erklären zu können, sondern vielmehr, um zum (kontroversen) Nachdenken anzuregen und einen subjektiven (anderen) Blickwinkel auf „das Recht“ zu eröffnen.

In diesem ersten Teil geht es um den Strafprozess und die vielbeschworene Gerechtigkeit.

Die Aufgabe von Gerichtsprozessen

Die Frage ist keineswegs profan, doch wird sich kaum ein Laie damit beschäftigt haben: Welche Aufgabe hat eigentlich ein strafgerichtliches Verfahren? Ich höre hier oft, dass es darum gehen soll „die Wahrheit“ herauszufinden. Das scheitert schon beträchtlich daran, dass wir nicht einmal definieren können, was „die Wahrheit“ eigentlich sein soll. Schlimmer noch: Wie ich noch darstellen werde, ist „die Wahrheit“ – wenn man sie als objektive Feststellung tatsächlicher Geschehnisse verstehen möchte – kaum Gegenstand des Gerichtsverfahrens und soll es in unserem System auch gar nicht sein. Das wird bereits erste reflexartige Abwehrhaltung bei den Lesern hervorrufen, allerdings zu Unrecht.

Die Wahrheit im Prozess

Es mag hart erscheinen, aber Begriffe mit absolutem Anspruch wie „reine Wahrheit“ und „wahre Liebe“ gibt es nur im Märchen. Geschehnisse, unsere Umwelt, unser Erleben – all dies wird von uns wahrgenommen, verarbeitet und bei diesen Prozessen beeinflusst. Beeinflusst u.a. von unseren persönlichen Veranlagungen, von automatisierten Wertungen des Gehirns die wir nicht einmal selber steuern können und selbst durch körperliche Grenzen, etwa Einschränkungen bei Hören, Sehen oder Merken im Gedächtnis. Es wäre bereits fatal, zu versuchen trotz all dieser menschlichen Unzulänglichkeiten irgendwo eine absolute, reine Wahrheit ermitteln zu wollen.

Doch es gibt ein weiteres Argument, das noch tiefer geht. Wer verlangt, dass ein Prozess sich alleine einer absoluten Wahrheit verpflichtet, der wird keinen Grund sehen, dem Angeklagten die fundamentalen Rechte zuzusichern, die wir in den letzten Jahrhunderten hart errungen haben – allem voran das Recht zu schweigen als Ausprägung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen. Wo die reine, absolute Wahrheit Prozessziel ist, da gibt es in letzter Konsequenz kein Schutzbedürfnis des Angeklagten mehr, er droht (wieder) zum reinen Objekt des Verfahrens zu werden, dass sich einem höheren Ziel verschrieben hat. Der letzte Schritt, den Angeklagten dann gar durch Druckmittel zu zwingen, irgendwelche Angaben zu machen, ist nur noch ein kleiner. Ein derartiges System, die Idee der absoluten Wahrheitsfindung – so sie denn überhaupt möglich wäre! – bietet damit auf der einen Seite ein hohes Missbrauchspotential und die Gefahr, im Sinne früherer finsterer Zeiten menschenunwürdig zu werden; auf der anderen Seite aber ist auch zu sehen, dass dieses System enorm fehleranfällig sein dürfte. Die Beweismittel blieben nämlich die gleichen, erweitert um einen Angeklagten der unter Druck gesetzt werden kann, um ein utopisches Ziel zu erreichen – unter diesen Vorgaben ist nicht zu erkennen, warum ein der „reinen absoluten Wahrheit“ verschriebenes System ein Gewinn wäre.

Die Lösung: Prozessuale Wahrheit

Ich gehe davon aus, dass der gedankliche Abschied von „der Wahrheit“ auf den ersten Blick schwierig ist, schwer nachzuvollziehen ist – umso zynischer wird dann wirken, wie man als Jurist mit dem Problem umgeht: Im Gerichtssaal existiert zwar nicht diese „reine, absolute Wahrheit“, aber eben die „prozessuale Wahrheit“. Es wird quasi, anhand der Beweismittel die es gibt und im Rahmen der in Form der Strafprozessordnung vorgegebenen „Spielregeln“ eine Wahrheit herausgeschält, die als in dieser Form entstandene „prozessuale Wahrheit“ dann die Grundlage des Urteils ist. Diese „Prozessuale Wahrheit“ kann mitunter sehr weit von dem entfernt sein, was einzelne Beteiligte als „Wahrheit“ erlebt haben; interessanterweise kann eine „prozessuale Wahrheit“ auch sehr weit von einer späteren „historischen Wahrheit“ entfernt sein. Dies sind aber keine Argumente dagegen, sondern vielmehr wird gerade im vollen Bewusstsein dieser Differenzen im Gerichtssaal agiert und ein Urteil gesprochen. Ist das noch Gerecht?

Recht und Gerechtigkeit

„Das ist doch nicht Gerecht“ höre ich in meinem Alltag sehr oft – manchmal kann ich zustimmen, manchmal sehe ich es anders. Wichtig ist nur eins: Es ist gleichgültig. Auch dies klingt hart und zynisch, doch man muss sich vor Augen halten, dass „Recht“ und „Gerechtigkeit“ sehr unterschiedliche Begriffe sind. „Gerechtigkeit“ ist Ausdruck eines individuellen Empfindens, das von Person zu Person unterschiedlich sein kann.

Ich habe Mandanten erlebt, die – von akustischer Überwachung erfasst – vor einem Einbruch gebetet haben, dass Gott Ihnen helfen soll und für einen guten Ertrag bei diesem Bruch sorgen soll. Was löst das beim Leser für ein Empfinden hinsichtlich der Gerechtigkeit aus? Natürlich ist es abwegig, vollkommen ungerecht, zu erwarten, dass „Gott“ einen dabei unterstützt beim Bruch viel zu finden. Doch wie ist es, wenn es sich um Opfer von Schlepperbanden handelt, die letztlich allabendlich Schläge und sonstige Misshandlungen bezogen haben, wenn an den vorgegebenen Zielen keine hinreichende Beute vorhanden war? Ist es dann Gerecht – oder nur ein anderer Blickwinkel? Es geht hier, an dieser Stelle, nicht um die Antwort auf diese Frage, sondern darum zu erkennen, wie schnell sich das eigene Empfinden wandeln kann – und an welche Grenzen man stösst, wenn man über Gerechtigkeit spricht. Ist es Gerecht, Menschen die Drogenkrank sind, bei Drogenerwerb, immer erst einmal wegzusperren (Bayern) oder hier jede Therapiemöglichkeit, sei sie noch so dünn ausgelegt, einer Haft vorzuziehen?

Es mag überraschend sein, aber wenn Sie ein gutes Ergebnis im Sinne eines menschenwürdigen und vertretbaren Ergebnisses wünschen, dann ist „Gerechtigkeit“ ein nahezu fataler Ansatz. Weniger überraschen sollte es, wenn ich es anders formuliere: Eigenes Empfingen, gleich worum es geht, ist kein geeigneter Maßstab objektiv über andere zu richten.

Verantwortung in einem formgerechten Verfahren zuschreiben

Und damit komme ich zurück zur ursprünglichen Frage: Welchen Sinn hat das Strafverfahren? Es gibt hierüber eine wahre Vielzahl von Ansichten und ich bezweifle, dass es hier ein objektives „richtig oder falsch“ gibt. Vielmehr gibt es eine differenzierte Möglichkeit, hier Meinungen zu vertreten und die eigene Meinung entscheidet am Ende vor allem darüber, wie man das Verfahren sieht und welche Ansprüche man daran erhebt.

Ich sehe einen sehr guten Ansatz darin, dass man das gerichtliche Strafverfahren als Prozess ansieht, der Verantwortung zuschreibt. Es wird durch die ein Sachverhalt Teil des öffentlichen Verfahrens, der sich durch objektive Beweismittel und richterlicher Würdigung – die sich an den erhobenen Beweisen zu orientieren hat – als (in Teilen) erwiesen ergibt. Die Form des Verfahrens, zwingend durch die Strafprozessordnung vorgegeben, sichert dabei, dass für willkürliche Entscheidungen, getroffen nach Gutdünken, kein Raum verbleiben darf. Das angeklagte Geschehnis als solches wird dann am Ende in einen prozessual festgestellten Sachverhalt gekleidet, die „Gesellschaft“ erfährt auf dem Weg, was – aus Sicht des Gerichts – tatsächlich geschehen ist.

Hiernach wird dann in Form der Verurteilung die Verantwortung für dieses Geschehnis dem Angeklagten zugeschrieben. Das Urteil bestimmt, ob und inwieweit der Angeklagte eine Verantwortung an dem gerichtlich erkannten Sachverhalt trifft. Die „Gesellschaft“, deren Teilhabe in Form der Öffentlichkeit des Verfahrens sichergestellt ist, erhält somit die Klarstellung, was geschehen ist und wer hier zur Verantwortung zu ziehen ist. Zugleich wird gezeigt, dass die aufgestellten und einzuhaltenden Regeln in Form der Gesetze ihre Gültigkeit beanspruchen und dass (bzw. wie) ein Verstoss geahndet wird, es wird somit im Idealfall für gesellschaftlichen Frieden gesorgt.

Das Verfahren samt Verurteilung ist damit am Ende nicht reiner Selbstzweck oder dient auch nur primär der nackten Bestrafung des schuldigen Angeklagten, sondern sie erfüllt eine Vielzahl von Funktionen. Am Ende steht die Erkenntnis, dass man bei Rechtsbrüchen für sein Verhalten einzustehen hat, dass Gesetze Ihre Wirkung entfalten und dass eben nicht nach Gutdünken sondern sachlich belastbar eine Entscheidung gefällt wurde.

Keine Wahrheit im Fazit

Was soll man sagen: Ein Rechtssystem, dass sich ganz offen nicht der „absoluten reinen Wahrheit“ widmet und dies wird auch noch begrüßt? Ich hoffe, ein wenig verdeutlicht zu haben, welche Hintergründe es dabei gibt. Eines muss klar sein: Das System in dem wir leben ist nicht perfekt, es erhebt auch nicht diesen Anspruch. Es ist zum Teil geprägt von Fehlern der letzten Jahrhunderte und orientiert sich daran, Entscheidungen zu produzieren, die möglichst nah an der Realität liegen und die möglichst weit von Willkür entfernt liegen. Dieses System produziert Fehler. Solange wir aber kein besseres System zu Hand haben ist dies kein brauchbares Argument, gegen unser System zu diskutieren. Am Ende steht die Erkenntnis, dass unser Rechtssystem zwar nicht perfekt ist, aber wohl das beste was uns derzeit zur Verfügung steht.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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