Wirecard: Vorstandshaftung bei unbesicherter Darlehensvergabe

Das Urteil des Landgerichts München I (Az. 5 HK O 17452/21) im Komplex „Wirecard“ setzt neue Maßstäbe für die Beurteilung der Haftung von Vorstandsmitgliedern – hier: bei unbesicherten Darlehensvergaben. Im Mittelpunkt der Entscheidung steht die Verantwortlichkeit der ehemaligen Vorstände des Wirecard-Konzerns für massive Pflichtverletzungen, die zur des Unternehmens beitrugen. Die richterliche Analyse umfasst Fragen zur Verletzung von Sorgfaltspflichten, zum Zurechnungszusammenhang sowie zu den Anforderungen an den Aufsichtsrat.

Sachverhalt

Im Verfahren klagte der Insolvenzverwalter der Wirecard AG auf Schadensersatz in Höhe von 140 Millionen Euro. Hintergrund war die Vergabe unbesicherter Darlehen durch den Vorstand an Vertragspartner mit fragwürdiger Bonität.

Die Gelder wurden ohne ausreichende Due-Diligence-Prüfungen oder Sicherheiten vergeben und konnten letztlich nicht zurückgeführt werden. Zusätzlich warf der Kläger dem Aufsichtsrat eine unzureichende Kontrolltätigkeit vor. Die Beklagten argumentierten, ihre Entscheidungen seien auf der Grundlage angemessener Informationen getroffen worden und fielen unter den Schutz der Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).


Rechtliche Würdigung

1. Verletzung der Sorgfaltspflichten durch den Vorstand

Das Gericht stellte klar, dass die Vergabe unbesicherter Darlehen an wirtschaftlich instabile Schuldner als objektiv pflichtwidrig einzustufen ist. Die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters gebietet es, wesentliche Geschäftsvorfälle nur nach umfassender Prüfung der Bonität und unter Einhaltung angemessener Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen. Im vorliegenden Fall wurden diese Grundsätze in grober Weise verletzt, da weder Sicherheiten verlangt noch plausible Rückzahlungspläne vorgelegt wurden.

Besonders kritisch wertete das Gericht die unterlassene Durchführung einer Due Diligence bei der Zeichnung von Schuldverschreibungen über 100 Millionen Euro. Der Verzicht auf eine solche Prüfung stellt eine gravierende Pflichtverletzung dar, da die Risiken der Investition nicht ausreichend bewertet wurden. Die Berufung der Beklagten auf die Business Judgement Rule wies das Gericht zurück, da die Entscheidungen nicht auf der Grundlage angemessener Informationen getroffen wurden.

2. Zurechnungszusammenhang und adäquate Kausalität

Ein zentraler Punkt der Entscheidung war die Frage, ob der finanzielle Schaden der Wirecard AG kausal auf die Pflichtverletzungen der Vorstände zurückzuführen ist. Das Gericht betonte, dass die zweckwidrige Verwendung der Darlehensmittel durch die Schuldner den Zurechnungszusammenhang nicht unterbricht. Vielmehr war es die Pflicht der Vorstandsmitglieder, durch sorgfältige Prüfung und Kontrolle eine zweckwidrige Verwendung zu verhindern.

Die adäquate Kausalität wurde ebenfalls bejaht, da die Schäden in direktem Zusammenhang mit den unterlassenen Prüfungsmaßnahmen und der Missachtung interner Kontrollmechanismen standen.

3. Rolle und Verantwortung des Aufsichtsrats

Das Gericht kritisierte den Aufsichtsrat der Wirecard AG für eine unzureichende Kontrolle des Vorstands. Obwohl die Geschäftsordnung des Unternehmens für bestimmte Geschäfte eine vorherige Zustimmung des Aufsichtsrats vorsah, wurden diese Vorgaben mehrfach ignoriert oder umgangen. Der Aufsichtsrat versäumte es zudem, auf eine Verschärfung der Kontrollmechanismen hinzuwirken, obwohl es in der Vergangenheit wiederholt zu Pflichtverletzungen gekommen war.

Wirecard: Vorstandshaftung bei unbesicherter Darlehensvergabe - Rechtsanwalt Ferner

Die Entscheidung zeigt, dass die Business Judgement Rule nicht als Deckmantel für leichtfertige oder uninformierte Entscheidungen herangezogen werden kann. Stattdessen wird die Bedeutung umfassender Due-Diligence-Prüfungen und transparenter Entscheidungsprozesse hervorgehoben.

4. Darlegungs- und Beweislast

Das LG München I hat klargestellt, dass die Grundsätze zur Darlegungs- und nach § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG, die für Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder gelten, auch auf ausgeschiedene Vorstandsmitglieder anwendbar sind. Dies bedeutet, dass ehemalige Vorstandsmitglieder nicht aus ihrer Verantwortung entlassen werden, nur weil sie ihr Amt nicht mehr ausüben.

Das Gericht argumentierte, dass die Haftung für Pflichtverletzungen, die während der Amtszeit begangen wurden, auch nach dem Ausscheiden fortbesteht. Es liegt weiterhin an den Beklagten, nachzuweisen, dass sie ihre Sorgfaltspflichten eingehalten haben oder dass der Schaden nicht durch ihr Handeln verursacht wurde.

Diese Auslegung verdeutlicht, dass die Kontrollpflichten des Vorstands über die Amtszeit hinaus rechtlich überprüfbar bleiben, um sicherzustellen, dass frühere Pflichtverletzungen nicht ohne Konsequenzen bleiben. Es unterstreicht die Kontinuität der Verantwortlichkeit, die Vorstandsmitglieder gegenüber der Gesellschaft tragen, und stellt eine wichtige Grundlage für die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen dar.


Die Verantwortlichkeit von Vorstandsmitgliedern bei Ressortaufteilung

In der Entscheidung des LG München I wird ein grundlegendes Prinzip der Organhaftung bei Aktiengesellschaften behandelt: Auch wenn die Aufgaben eines Vorstandes auf einzelne Mitglieder aufgeteilt sind, bleibt die Verantwortung für das Gesamtunternehmen eine gemeinsame und umfassende. Das Gericht hat hierzu klargestellt, dass die Aufteilung der Zuständigkeiten nicht dazu führt, dass ein Vorstandsmitglied die Verantwortung für Vorgänge in anderen Ressorts vollständig ablegen kann. Dies beruht auf der sogenannten Allzuständigkeit des Vorstandes, die sich aus § 76 Abs. 1 AktG ergibt.

Die Allzuständigkeit des Vorstandes

Die gesetzliche Grundlage besagt, dass der Vorstand einer Aktiengesellschaft für die Leitung des gesamten Unternehmens verantwortlich ist. Diese Verantwortung bleibt bestehen, auch wenn einzelne Ressorts spezifischen Mitgliedern des Vorstandes zur Führung zugewiesen werden. Die Aufteilung dient vor allem der Arbeitsteilung und Effizienz, hebt jedoch nicht die übergeordnete Pflicht zur Überwachung und zum Eingreifen auf, wenn Fehlentwicklungen in anderen Ressorts erkennbar sind.

Das Gericht argumentierte, dass die Gesamtverantwortung des Vorstandes eine Kernpflicht ist, die sich nicht durch organisatorische Maßnahmen wie Ressortaufteilungen vollständig delegieren lässt. Alle Vorstandsmitglieder tragen letztlich gemeinsam die Verantwortung für das Wohl des Unternehmens.

Vertrauensgrundsatz und Überwachungspflichten

Ein zentrales Thema ist die Reichweite des sogenannten Vertrauensgrundsatzes. Nach diesem Grundsatz dürfen sich Vorstandsmitglieder darauf verlassen, dass die Mitglieder, die für ein bestimmtes Ressort verantwortlich sind, ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen. Allerdings wird dieser Grundsatz begrenzt: Sobald Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen eines ressortzuständigen Mitglieds vorliegen, genügt es nicht mehr, auf die Kompetenz und ordnungsgemäße Amtsführung dieses Kollegen zu vertrauen. Vielmehr entsteht für die anderen Vorstandsmitglieder eine aktive Überwachungspflicht.

Das Gericht stellte klar, dass in solchen Fällen die übrigen Vorstandsmitglieder einschreiten müssen, um sicherzustellen, dass die Aufgaben des Ressorts weiterhin im Sinne des Unternehmensinteresses erfüllt werden. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob das betroffene Ressort ihnen formal unterstellt ist.

Überwachungspflichten bei Verdacht auf Missstände

Die Überwachungspflichten des Vorstandes erstrecken sich insbesondere auf Situationen, in denen Hinweise auf eine unsachgemäße Geschäftsführung bestehen. Das LG München betonte, dass Vorstandsmitglieder verpflichtet sind, Verdachtsmomente ernst zu nehmen, die darauf hindeuten, dass ein anderer Ressortleiter seine Aufgaben nicht ordnungsgemäß erfüllt. Beispiele für solche Anhaltspunkte können sein:

  • Fehlende Berichterstattung oder mangelnde Transparenz bei wesentlichen Vorgängen,
  • wiederholte Missachtung interner Regeln oder externer Vorschriften,
  • deutliche Abweichungen von üblichen Geschäftspraktiken oder Plänen,
  • Hinweise aus internen oder externen Prüfungen, die Missstände aufzeigen.

Treten solche Indizien auf, müssen die übrigen Vorstandsmitglieder aktiv werden. Dies kann bedeuten, dass sie interne Kontrollen veranlassen, Berichte anfordern oder gegebenenfalls den Aufsichtsrat einschalten, um sicherzustellen, dass die Missstände behoben werden.

Die Entscheidung mahnt Vorstände, ihre Überwachungspflichten ernst zu nehmen und nicht auf eine vermeintliche „Entlastung“ durch Ressortaufteilungen zu vertrauen.

Rechtsanwalt Jens Ferner

Keine Aufhebung der Verantwortung durch Ressortaufteilung

Das Urteil verdeutlicht, dass die Ressortaufteilung nicht zur Entlastung der übrigen Vorstandsmitglieder führt, sondern lediglich organisatorischen Zwecken dient. Die Gesamtverantwortung des Vorstandes bleibt bestehen. Eine vollständige „Abschottung“ der Ressorts ist nicht zulässig, da dies der Verpflichtung zu einer ordnungsgemäßen Unternehmensführung widerspräche. Im Gegenteil: Die Ressortaufteilung muss so gestaltet sein, dass alle Vorstandsmitglieder jederzeit über den Stand der Geschäftsführung in anderen Bereichen informiert sind.


Fazit

Die Entscheidung des LG München I betont die hohen Anforderungen an die Sorgfaltspflichten von Vorständen und die Kontrollpflichten von Aufsichtsräten. Sie unterstreicht, dass eine unsorgfältige Unternehmensführung erhebliche persönliche Haftungsrisiken birgt. Gleichzeitig stärkt sie das Vertrauen in die rechtliche Durchsetzung von Organpflichten und sendet ein klares Signal an Unternehmensleitungen, dass gravierende Pflichtverstöße nicht folgenlos bleiben.

Dabei hat das mit seiner Entscheidung die hohe Verantwortung von Vorstandsmitgliedern unterstrichen: Die Allzuständigkeit des Vorstandes verpflichtet jedes Mitglied, über die Tätigkeiten anderer Ressorts informiert zu sein und bei Hinweisen auf Pflichtverletzungen einzugreifen. Diese Prinzipien stellen sicher, dass die Interessen der Gesellschaft auch in Fällen gewährleistet bleiben, in denen einzelne Ressorts nicht ordnungsgemäß geführt werden.

Das Urteil des LG München I hat durchaus wegweisenden Charakter für die Organhaftung in deutschen Aktiengesellschaften. Es verdeutlicht, dass Vorstandsmitglieder ihre Sorgfaltspflichten nicht auf die leichte Schulter nehmen dürfen, insbesondere wenn es um risikoreiche finanzielle Entscheidungen geht. Gleichzeitig mahnt es Aufsichtsräte, ihre Kontrollfunktion ernsthaft wahrzunehmen und Verstöße des Vorstands frühzeitig zu sanktionieren.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft. Ich bin Softwareentwickler, in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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