Das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt hat in einem aktuellen Beschluss vom 13. Dezember 2024 (Aktenzeichen: 1 Ws 494/24) wichtige Fragen zum Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei erneuter Straffälligkeit entschieden. Der Fall betraf einen Verurteilten, dessen Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde, nachdem er in der Bewährungszeit neue Straftaten begangen hatte. Der Beschluss des Oberlandesgerichts gibt Aufschluss über die rechtlichen Grundlagen und die Voraussetzungen für einen solchen Widerruf.
Sachverhalt
Der Beschwerdeführer war mit Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 15. September 2014 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt worden. Mit Beschluss vom 24. November 2020 setzte die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des nach Verbüßung von zwei Dritteln noch verbliebenen Restes der Freiheitsstrafe zur Bewährung aus. Die Bewährungszeit wurde auf fünf Jahre festgesetzt.
In der Bewährungszeit beging der Verurteilte jedoch neue Straftaten. Er wurde wegen Sachbeschädigung und vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt. Daraufhin verlängerte die Strafvollstreckungskammer die Bewährungszeit um ein Jahr. Später wurde der Verurteilte wegen eines tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Bedrohung und weiterer Delikte zu Freiheitsstrafen verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Die Strafvollstreckungskammer widerrief schließlich mit Beschluss vom 21. Oktober 2024 die dem Verurteilten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung wegen der erneuten Straffälligkeit. Gegen diesen Beschluss wandte sich der Verurteilte mit seiner sofortigen Beschwerde, die das Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt als unbegründet verworfen hat.
Juristische Analyse
Das Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei erneuter Straffälligkeit ausführlich dargelegt.
Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung
Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist in § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB geregelt. Danach ist der Widerruf geboten, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die der Strafaussetzung zugrundeliegende Erwartung der künftigen Straffreiheit nicht erfüllt hat. Das Gericht hat betont, dass jede in der Bewährungszeit begangene Tat von nicht unerheblichem Gewicht die Erwartung der künftigen Straffreiheit in Frage stellt. Dabei ist nicht Voraussetzung, dass zwischen der früheren und der neuen Tat ein kriminologischer Zusammenhang besteht oder dass sie nach Art und Schwere miteinander vergleichbar sind.
Im vorliegenden Fall hat der Verurteilte innerhalb von knapp anderthalb Jahren gleich sieben Straftaten begangen, darunter mehrere Aggressionsdelikte. Das Gericht hat festgestellt, dass diese Taten nicht nur bagatellhaften Charakter haben und aufgrund ihrer Häufung insgesamt nicht als bedeutungslos angesehen werden können. Da sich der Verurteilte weder durch die Verbüßung langer Haftstrafen noch durch die Reststrafenaussetzung zur Bewährung davon hat abhalten lassen, innerhalb kurzer Zeit eine Vielzahl weiterer Taten zu begehen, ist davon auszugehen, dass auch weiterhin neue Straftaten von ihm zu erwarten sind.
Mildere Maßnahmen
Das Gericht hat auch geprüft, ob mildere Maßnahmen wie die Verlängerung der Bewährungszeit oder die Verhängung von Bewährungsauflagen oder Bewährungsweisungen gemäß § 56f Abs. 2 StGB die Aussetzungsprognose wiederherstellen könnten. Solche Maßnahmen wären nur dann eine ausreichende Reaktion auf das neuerliche Fehlverhalten, wenn neue Tatsachen vorlägen, die trotz des Bewährungsversagens die Erwartung rechtfertigten, der Verurteilte werde zukünftig keine Straftaten mehr begehen und Tatanreizen widerstehen.
Das Gericht hat festgestellt, dass derartige neue Tatsachen nicht ersichtlich sind. Angesichts der Vielzahl der in der Bewährungszeit begangenen Straftaten ist bereits nicht erkennbar, dass der Verurteilte überhaupt bewährungswillig ist. Auch eine wesentliche Änderung der Lebensführung nach der erneuten Straffälligkeit, die trotz des Bewährungsversagens Grundlage einer positiven Prognose sein könnte, ist nicht gegeben. Die sozialen Verhältnisse des Verurteilten haben sich nach den neuen Straftaten sogar drastisch verschlechtert, da er arbeitslos geworden ist und seine Wohnung geräumt wurde.
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Prognose des Tatrichters
Das Gericht hat sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Prognose des Tatrichters, der die Vollstreckung der zur Ahndung der erneuten Straftaten verhängten Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt hatte, für die Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung maßgeblich sein könnte. Das Gericht hat betont, dass sich das für die Prüfung des Widerrufs zuständige Gericht regelmäßig der Prognose eines Tatrichters anschließen soll, weil diesem aufgrund der Hauptverhandlung in der Regel bessere Erkenntnismöglichkeiten für eine sachgerechte Beurteilung der Zukunftsprognose zur Verfügung stehen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Prognose nachvollziehbar begründet ist.
Im vorliegenden Fall hat das Amtsgericht Magdeburg die Strafaussetzung zur Bewährung im Wesentlichen damit begründet, dass die Anlasstat nicht einschlägig war und die betreffende Verurteilung bereits zehn Jahre zurücklag, sowie dass der Verurteilte in geordneten sozialen Verhältnissen lebte. Das Oberlandesgericht hat diese Begründung als nicht nachvollziehbar angesehen, da das Amtsgericht nicht dargelegt hat, warum die Anlasstat nicht einschlägig sein sollte und warum die geordneten sozialen Verhältnisse eine positive Prognose rechtfertigen sollten, obwohl der Verurteilte die neuen Straftaten gerade in diesen Verhältnissen begangen hat.
Der Beschluss zeigt in aller Deutlichkeit, wie die Gerichte bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung eine sorgfältige Abwägung aller relevanten Umstände vornehmen müssen. Dabei kommt es nicht nur auf die Schwere der neuen Straftaten an, sondern auch auf die Gesamtumstände des Einzelfalls, einschließlich der sozialen Verhältnisse des Verurteilten und seiner Bereitschaft, sich künftig straffrei zu führen.
Fazit
Der Beschluss des Oberlandesgerichts des Landes Sachsen-Anhalt gibt wichtige Aufschlüsse über die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei erneuter Straffälligkeit. Das Gericht hat betont, dass der Widerruf geboten ist, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit neue Straftaten begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung der künftigen Straffreiheit nicht erfüllt hat.
Mildere Maßnahmen wie die Verlängerung der Bewährungszeit oder die Verhängung von Bewährungsauflagen kommen nur dann in Betracht, wenn neue Tatsachen vorliegen, die trotz des Bewährungsversagens eine positive Prognose rechtfertigen. Die Prognose des Tatrichters ist nur dann maßgeblich, wenn sie nachvollziehbar begründet ist.
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