Das Oberlandesgericht Stuttgart hat in einem Beschluss vom 19. Februar 2025 (Aktenzeichen: 1 Ws 3/25) wichtige Fragen zur Vorlaufzeit für das Absehen von einem Bewährungswiderruf entschieden. Der Fall betraf einen Verurteilten, dessen Bewährungswiderruf aufgrund neuer Straftaten in der Bewährungszeit ausgesprochen wurde. Der Beschluss des Oberlandesgerichts gibt Aufschluss über die rechtlichen Grundlagen und die Voraussetzungen für einen solchen Widerruf.
Sachverhalt
Der Verurteilte war mit Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 17. Mai 2022 zu einer Bewährungsstrafe von fünf Monaten und zwei Wochen verurteilt worden. Die Bewährungszeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt. Dieses Urteil wurde nach Rücknahme der Berufung durch den Angeklagten am 7. Dezember 2023 rechtskräftig.
In der Bewährungszeit kam es zu weiteren rechtskräftigen Verurteilungen: am 8. Januar 2024 durch das Amtsgericht Nürnberg zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten wegen zwei Taten sowie am 28. Februar 2024 durch das Amtsgericht Stuttgart zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr wegen drei Taten.
Das Landgericht Heilbronn hat mit dem angefochtenen Beschluss den Widerruf der Bewährung aus dem Urteil des Amtsgerichts Freiburg vom 17. Mai 2022 ausgesprochen. Die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde des Verurteilten wurde vom Oberlandesgericht Stuttgart als unbegründet verworfen.
Juristische Analyse
Das Oberlandesgericht Stuttgart hat in seinem Beschluss die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei erneuter Straffälligkeit ausführlich dargelegt.
Vorlaufzeit für den Bewährungswiderruf
Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung ist in § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB geregelt. Danach ist der Widerruf geboten, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine neue Straftat begeht. Das Gericht hat betont, dass die Bewährungszeit nach § 56a Abs. 2 StGB erst mit der Rechtskraft der Entscheidung über die Strafaussetzung beginnt. Dennoch scheidet ein Widerruf der Bewährung nicht aus, wenn die Tat in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft begangen worden ist. Diese sogenannte Vorlaufzeit wird in § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 1 StGB geregelt und gleichgestellt mit der Bewährungszeit.
Im vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht Stuttgart entschieden, dass die Vorlaufzeit bereits mit der ersten tatrichterlichen Entscheidung zur Strafaussetzung beginnt. Das Gericht hat sich dabei auf den Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 1 StGB gestützt, der allein auf die Zeit „zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft” abhebt. Eine am Gesetzeszweck orientierte Auslegung spricht ebenfalls für diese Auffassung, da ein Angeklagter schon ab der ersten Strafaussetzungsentscheidung weiß, sich in Zukunft bewähren zu müssen.
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Beginn der Vorlaufzeit
Das Gericht hat sich auch mit der Frage auseinandergesetzt, wann die Vorlaufzeit des § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 1 StGB beginnt. Es hat entschieden, dass die Vorlaufzeit bereits mit der ersten tatrichterlichen Entscheidung zur Strafaussetzung beginnt und nicht erst mit der letzten, also in der Regel dem Berufungsurteil. Diese Auffassung wird durch den Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 1 StGB gestützt, der allein auf die Zeit „zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung und deren Rechtskraft” abhebt.
Das Gericht hat betont, dass ein Angeklagter im Zeitpunkt der erstinstanzlichen Bewährungsentscheidung den Fortgang des Verfahrens nicht kennt. Ob nur er oder auch die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel einlegen wird, ob und welches Rechtsmittel zulässig ist, ob es ein Revisions- oder Berufungsverfahren geben wird oder ob ein Fall des § 335 Abs. 3 StPO vorliegen wird, weiß er im Zeitpunkt der ersten Bewährungsentscheidung nicht. Diese Unwägbarkeiten begründen für den Angeklagten weiteren Anlass, sich bereits ab der ersten Bewährungsentscheidung straffrei zu führen.
Systematische Betrachtung
Das Gericht hat auch eine systematische Betrachtung des § 56f Abs. 1 Satz 2 StGB angestellt. Es hat betont, dass im Rahmen des § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 2 StGB ebenfalls an den früheren Zeitpunkt angeknüpft wird. Der Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer weiteren Straftat des Verurteilten ist bereits dann möglich, wenn diese Tat innerhalb der Bewährungszeit des als erstes ergangenen einbezogenen Urteils, aber noch vor dem bzw. den nachfolgenden einbezogenen Entscheidungen begangen wurde.
Der Beschluss zeigt, dass die Gerichte bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung eine sorgfältige Abwägung aller relevanten Umstände vornehmen müssen. Dabei kommt es nicht nur auf die Schwere der neuen Straftaten an, sondern auch auf die Gesamtumstände des Einzelfalls, einschließlich der sozialen Verhältnisse des Verurteilten und seiner Bereitschaft, sich künftig straffrei zu führen.
Fazit
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart gibt wichtige Aufschlüsse über die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei erneuter Straffälligkeit. Das Gericht hat betont, dass die Vorlaufzeit bereits mit der ersten tatrichterlichen Entscheidung zur Strafaussetzung beginnt und nicht erst mit der letzten, also in der Regel dem Berufungsurteil. Diese Auffassung wird durch den Wortlaut des § 56f Abs. 1 Satz 2 Var. 1 StGB gestützt und durch eine am Gesetzeszweck orientierte Auslegung bestätigt.
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