Bisher wurde in der Rechtsprechung beim Vorwurf einer Vergewaltigung im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten die – an Entscheidungen des Bundesgerichtshofs anknüpfende – Erwägung eingestellt, wenn das Tatopfer als Sexarbeiterin (früher: „Prostituierte“) betätigte und sich vor der Tat zum geschützten Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten bereiterklärt hatte. Hiervon rückt nun ausdrücklich der 6. Senat ab, der klarstellt, sich dieser Bewertung nicht anschließen zu wollen:
Dies gilt insbesondere mit Blick auf die Neufassung des § 177 StGB durch das Fünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460; vgl. Hörnle, NStZ 2017, 13 ff.). Der Tatbestand erfasst nach geltender Rechtslage die Vornahme sexueller Handlungen, mit denen sich der Täter – auch ohne Nötigungsmittel (…) – über den entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt und dadurch das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung verletzt (vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 22).
Nach dem ausdrücklichen gesetzgeberischen Willen ist es jedenfalls nunmehr unerheblich, aus welchen Gründen das Opfer die sexuelle Handlung ablehnt (vgl. BT-Drucks. aaO, S. 23).
Der damit – entsprechend den rechtlichen Maßgaben aus Art. 36 des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention), umgesetzt in deutsches Recht durch Gesetz zu dem Übereinkommen des Europarates vom 11. Mai 2011 zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (BGBl. 2017 II, S. 1026 ff.; BT-Drucks. 18/12037, S. 76 f.) – unterschiedslos erstrebte Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ist mit einer regelhaften Differenzierung zwischen einer Prostituierten und einer „unbescholtenen Frau“ (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 1973 – 4 StR 135/73) unvereinbar (…).
BGH, 6 StR 279/22
Es wäre also mit der neueren Rechtsprechung des BGH rechtsfehlerhaft, das Recht der sexuellen Selbstbestimmung eines Tatopfers dergestalt mit ihrer Bereitschaft, gegen Entgelt mit dem Täter sexuell zu verkehren, zu verknüpfen. Soweit früherer Rechtsprechung eine gegenteilige Rechtsauffassung entnommen werden kann, halten immer mehr BGH-Senate hieran nicht fest (so nun auch BGH, 5 StR 386/22). Denn:
… es mindert weder die generelle Schutzwürdigkeit der sexuellen Selbstbestimmung des Tatopfers noch das Ausmaß der Verletzung dieses Rechts, wenn die betroffene Person unter anderen Bedingungen, etwa gegen eine Bezahlung, sexuelle Handlungen auch freiwillig vorzunehmen oder zu erdulden bereit gewesen wäre, die dann aber erzwungen wurden (…)
Eine Vereinbarung entgeltlicher sexueller Handlungen bleibt auch ohne Einfluss auf das Ausmaß des in einem nachfolgenden sexuellen Übergriff liegenden Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung. Wird die Grundbedingung einer solchen Einigung – freiwilliger Verkehr gegen Bezahlung – nicht eingehalten, so vermag allein der Umstand, dass es zu der Einigung überhaupt gekommen war, die Divergenz zwischen dem Handeln des Täters und dem Willen des Opfers nicht anteilig aufzufangen oder abzumildern. Denn ein Eingriff in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist jedenfalls nicht in dem Sinne teilbar, dass die Missachtung des Willens eines Sexualpartners sich auf dessen Wunsch nach Gewaltfreiheit und Bezahlung beschränken und hinsichtlich der sexuellen Handlung „an sich“ aber noch ein das Erfolgsunrecht zumindest reduzierender Rest an Konsens verbleiben könnte (vgl. auch MüKo-StGB/Renzikowski aaO unter Verweis auf Hörnle, StV 2001, 454, 455).
BGH, 5 StR 386/22
Solche „Graduierungen“ des Schutzgutes der sexuellen Selbstbestimmung wären im Übrigen, so der BGH zutreffend, nicht vereinbar mit der heutigen Fassung des § 177 StGB und dessen grundlegender Neukonzeption. Denn für die Erfüllung des § 177 StGB soll es nach dem Willen des Gesetzgebers nunmehr unerheblich sein, aus welchen Gründen das Opfer eine sexuelle Handlung ablehnt. Geschützt werden soll die Freiheit des Opfers, jederzeit seinen Willen zu ändern, unabhängig von einer zuvor erteilten Zustimmung, von der Beziehung der Beteiligten oder etwaigen Abreden oder Gegenleistungen (dazu BT-Drucks. 18/9097, S. 23). Insoweit sei auch an die Rechtsprechung zum Stealthing erinnert!
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