Eine neue Ideologie macht sich in den Zentren technologischer Macht breit: TESCREAL. Das Kunstwort steht für eine Mischung aus Transhumanismus, Extropianismus, Singularitarismus, Kosmismus, Rationalismus, Effektivem Altruismus und Longtermism – kurz gesagt: eine techno-utopische Weltsicht, die darauf abzielt, den Menschen technologisch zu transformieren oder gar zu ersetzen.
Ihre Anhänger sehen in der heutigen Menschheit lediglich eine Vorstufe, eine biologische Schranke auf dem Weg zu einer posthumanen Zukunft, in der Maschinen, künstliche Intelligenzen und digitale Wesen das Zepter übernehmen. Was auf den ersten Blick nach einer harmlosen Science-Fiction-Vision klingt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als eine gefährliche technokratische Ideologie, die nicht nur ethische Prinzipien missachtet, sondern gezielt staatliche Kontrollstrukturen abbauen will, um ihre Vision ungehindert zu verwirklichen.
Der Drang zur Deregulierung – Eine Gefahr für das Gemeinwesen
TESCREAL-Anhänger, die sich vor allem in den elitären Kreisen des Silicon Valley und der transnationalen Tech-Industrie tummeln, sehen in demokratischen Institutionen vor allem ein Hindernis. Regulierung, soziale Verantwortung und das Abwägen individueller Rechte stehen ihrer techno-utopischen Agenda im Weg.
Staatliche Eingriffe in Technologie, etwa durch Datenschutzgesetze, ethische KI-Richtlinien oder demokratische Kontrolle von Plattformen, werden als überkommen oder sogar als moralisch falsch betrachtet. Die Logik dahinter ist radikal utilitaristisch: Wenn das ultimative Ziel die posthumane Zukunft ist, in der KI, Raumkolonisierung und Transzendenz das menschliche Leben obsolet machen, dann muss alles, was diesem Ziel im Weg steht, aus dem Weg geräumt werden. Nationale Demokratien, rechtsstaatliche Prinzipien oder gar ethische Verantwortung erscheinen in dieser Perspektive als lästige Altlasten einer überkommenen Ära.
TESCREAL und der Humanismus – Ein unauflösbarer Widerspruch
Während TESCREAL eine technologische Zukunft anstrebt, in der der Mensch bestenfalls noch als Übergangsform existiert, steht der Humanismus für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde, für Bildung, Ethik und soziale Gerechtigkeit. Der Humanismus beruht auf der Überzeugung, dass der Mensch aus sich heraus Werte schaffen kann, dass er nicht einem fremdbestimmten, teleologischen Ziel untergeordnet werden darf. TESCREAL hingegen sieht den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel – eine evolutionäre Fußnote auf dem Weg zu einer posthumanen Existenz.
Diese beiden Weltanschauungen sind nicht kompatibel. Während der Humanismus an der gesellschaftlichen Verantwortung und der individuellen Würde festhält, reduziert TESCREAL den Wert des Einzelnen auf seine Funktion in einem langfristigen technologischen Entwicklungsplan. Wo der Humanismus den demokratischen Diskurs, Bildung und soziale Teilhabe betont, neigt TESCREAL zu einer technokratischen Eliteherrschaft, die sich ethischer Verantwortung entzieht.
Ich bin überzeugter Humanist – nicht zuletzt deswegen bin ich STrafverteidiger geworden; und vor allem auch kein Gegner von Technologien! Aber ich bin skeptisch, wenn Technologien mit dem Ziel vermarktet werden, den Menschen in seiner Form zu “verbessern”: Unsere menschliche Stärke erwächst aus unserer Fehlerhaftigkeit mitsamt der verbundenen Fähigkeit zu lernen – sowie unserer kooperativen Komponente, die sich mal in rationalem Kooperieren, mal in emotionaler Verbundenheit zeigt. Gerade nun, da die Gesellschaft prägende KI-Modelle trainiert und verbreitet werden, müssen wir Werte-Diskussionen führen. Eine gesunde eigene Orientierung gehört dazu, europäische Werte zumindest zu kennen, ist da ein Anfang.
Meinungsfreiheit im digitalen Raum – Ein Kulturkampf zwischen Europa und den USA wird deutlich
Die Auswirkungen dieser Ideologie zeigen sich besonders in der Art und Weise, wie große US-Plattformen und KI-Modelle gestaltet werden. In den USA dominiert traditionell eine individualistische Auffassung von Meinungsfreiheit: Jeder kann sagen, was er will, egal wie schädlich oder destruktiv es ist. In Europa hingegen gilt ein humanistischer Ansatz, bei dem Meinungsfreiheit stets gegen andere Rechte – etwa Persönlichkeitsrechte oder den Schutz der Demokratie – abgewogen wird. Die europäischen Demokratien haben über Jahrhunderte hinweg gelernt, dass es keine absolute Freiheit gibt, sondern stets eine Balance gefunden werden muss.
Meinungsfreiheit verstehen!
Zu einer Meinungsäußerungsfreiheit gehört auch die Freiheit, sich frei von (subtiler) Manipulation auch eine Meinung bilden zu können. Google Gemini macht gerade klar, dass es an diesem Punkt mit der Meinungsfreiheit nicht weit her ist in den USA.
Doch genau diese Balance ist in Gefahr. Wenn US-amerikanische KI-Modelle zunehmend von TESCREAL-Ideologen beeinflusst werden, könnten sich digitale Diskurse drastisch verschieben. Das zeigt sich schon aktuell, wenn OpenAI stolz verkündet, ChatGPT weniger gefiltert antworten zu lassen. In einer Zukunft, in der Algorithmen Meinungen filtern, verstärken oder unterdrücken, ist es eine zentrale Frage, wer diese Algorithmen programmiert und mit welchen ethischen Leitlinien. Die Gefahr besteht, dass europäische Wertvorstellungen im digitalen Raum durch die Dominanz US-amerikanischer Tech-Konzerne zunehmend ausgehöhlt werden. Europa muss sich dieser Herausforderung bewusst werden, bevor es in einem digitalen Kosmos aufwacht, in dem seine humanistischen Prinzipien keine Rolle mehr spielen.
Ein globales Spannungsfeld – Europa, die USA und China
Während die USA zunehmend durch individualistische und TESCREAL-geprägte Tech-Ideologien bestimmt werden, verfolgt China einen utilitaristischen Ansatz. Hier steht nicht der Mensch im Mittelpunkt, sondern das Wohl des Staates – oder genauer gesagt, der Machterhalt der Regierung. Meinungsfreiheit existiert nur, solange sie der Staatsräson dient.
Europa steht somit zwischen zwei extremen Polen: einer radikalen Deregulierung und einem autoritären Kontrollmodell. Beides ist mit der europäischen Idee der Menschenrechte nicht vereinbar. Doch wenn Europa nicht aktiv gegensteuert, könnte es bald keine Rolle mehr spielen. Die digitale Welt wird in einer zunehmend möglichen Dystopie entweder von TESCREAL-getriebenen US-Plattformen oder von staatskontrollierten chinesischen Modellen bestimmt werden.
Die Risiken einer TESCREAL-dominierten Zukunft
Die vielleicht größte Gefahr, die von TESCREAL ausgeht, ist der schleichende Rückzug des Staates. Ein Gemeinwesen, das sich von Tech-Oligarchen entmachten lässt, verliert seine Fähigkeit, Gemeinwohl, Gerechtigkeit und soziale Verantwortung durchzusetzen. Letztlich ist dann auch die Demoktratie selbst nur ein weiteres Problem auf dem Weg in die verheissungsvolle Zukunft. Die dystopische Konsequenz wäre eine Welt, in der der Zugang zu Ressourcen, Bildung oder gar zum Leben selbst zunehmend von KI-Systemen bestimmt wird, die nach TESCREAL-Prinzipien agieren: utilitaristisch, optimierungsorientiert und frei von menschlichen Werten.
Die Schwächsten der Gesellschaft – Alte, Kranke, sozial Benachteiligte – würden schlicht aus den Berechnungen herausfallen. Wenn der Staat sich aus der Regulierung zurückzieht, überlassen wir die Zukunft einer elitären Gruppe von Tech-Visionären, die sich an einem posthumanen Ziel orientieren, das mit der Realität der meisten Menschen nichts mehr zu tun hat.
Fazit: Europa muss seine ethischen Prinzipien verteidigen
TESCREAL ist nicht nur eine Ideologie, die sich in Think-Tanks und Universitätskreisen entfaltet – sie hat reale Auswirkungen auf die digitale und gesellschaftliche Zukunft. Dazu gehört, dass man sich dieser Ideologie überhaupt einmal bewusst wird – Berichterstattung zu dem Thema ist in Deutschland noch rar, faktisch nicht vorhanden (ZDF und Golem haben erste Berichte). Wenn Europa seine humanistischen Werte bewahren will, muss es aktiv gegen diesen Einfluss angehen und seine eigenen Werte, die Identitätsstiftend und damit für alle Europäer verbindend sind, vermitteln.
Es braucht eine klare Regulierung für KI-Systeme, eine digitale Souveränität, die europäische Werte schützt, und einen kritischen Diskurs über die ethischen Grundlagen der Technologien, die unsere Welt gestalten werden. Sonst droht eine Zukunft, in der der Mensch nur noch eine Fußnote in den Berechnungen einer maschinellen Superintelligenz ist. Hierzu gehört dann aber auch, dass man erkennt, dass Europa nur als Ganzes eine Chance hat – und man lernt, was europäische Werte eigentlich sind. Dazu gibt es sehr anspruchsvolle Literatur (nicht für jeden geeignet), einen kurzen Text der EU selbst und auch ein Video für die, die nicht zu viel lesen wollen.
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