Verfassungsbeschwerde gegen Unterbringungsbefehl im Zusammenhang mit der Anordnung nachträglicher Sicherungsverwahrung erfolgreich

Der Beschwerdeführer wurde wegen Vergewaltigung und sexuellem
Missbrauch eines Kindes vom Landgericht zu einer Gesamtfreiheitsstrafe
von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Gleichzeitig wurde die
Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Nach
Vollzug der Unterbringung und der Freiheitsstrafe ordnete das
Landgericht nach § 66b Abs. 1 Satz 1 StGB in Verbindung mit § 66 Abs. 1
Nr. 1-2, Abs. 4 StGB nachträglich die Sicherungsverwahrung an, weil
während der Unterbringung Umstände erkennbar geworden seien, die auf
eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit
hindeuteten. Der Beschwerdeführer legte gegen dieses Urteil Revision
ein.
Im März 2008 erließ das Landgericht einen Unterbringungsbefehl,
gegen den der Verurteilte Beschwerde einlegte, die durch das
Oberlandesgericht verworfen wurde. Zwischenzeitlich hob der 5.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs (Beschluss vom 3. September 2008 - 5
StR 281/08 - Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs Nr. 167/2008) auf
die Revision des Beschwerdeführers das Urteil des Landgerichts auf und
verwies die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an ein
anderes Landgericht.

Die Verfassungsbeschwerde gegen den Unterbringungsbefehl und die diesen
bestätigende Entscheidung des Oberlandesgerichts hatte Erfolg. Die 2.
Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hob diese
Entscheidungen auf, da sie den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus
Artikel 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes verletzen. Zwar ist § 275a
Abs. 5 als gesetzliche Grundlage des angegriffenen
Unterbringungsbefehls verfassungsrechtlich auch insofern nicht zu
beanstanden, als die Vorschrift Fälle erfasst, in denen die
nachträgliche Anordnung der auf der Grundlage des
§ 66b Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB zu
erwarten ist. Die Anwendung der Vorschrift im vorliegenden Einzelfall
durch das Landgericht und das Oberlandesgericht ist aber mit dem
Freiheitsgrundrecht des Beschwerdeführers nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG
nicht zu vereinbaren.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
I. Die mit § 66b Abs. 1 Satz 2 StGB einhergehende Erweiterung der
Möglichkeiten zur nachträglichen Anordnung der in der
Sicherungsverwahrung verstößt nicht gegen das verfassungsrechtliche
Rückwirkungsverbot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG oder das
Doppelbestrafungsverbot des Art. 103 Abs. 3 GG sowie gegen das
rechtsstaatliche und grundrechtliche Gebot des Vertrauensschutzes
(Art. 2 Abs. 2, Art. 20 Abs. 3 GG). Die Neuregelung greift zwar in
das Freiheitsgrundrecht ein, genügt aber insbesondere den
Anforderungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und verletzt
daher auch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG nicht.

II. Die Auslegung und Anwendung des § 275a Absatz 5 StPO in Verbindung
mit § 66 Absatz 1 StGB in den angegriffenen Entscheidungen genügen
allerdings den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Die
Auffassung des Landgerichts, es bestünden dringende Gründe für die
Annahme, dass die nachträgliche Sicherungsverwahrung des
Beschwerdeführers angeordnet werde, verkennt die hier zu
beachtenden Anforderungen des Freiheitsgrundrechts in Verbindung
mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

1. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts im
Unterbringungsbefehl und im – ergänzend heranzuziehenden –
Urteil lässt sich zunächst die Gegenwärtigkeit der vom
Beschwerdeführer ausgehenden Gefahr, wie sie von Verfassungs
wegen zu fordern ist, nicht bejahen. Ein nur „mittel- oder
langfristig“ bestehendes Risiko, wie vom Landgericht
festgestellt, genügt für den erheblichen Eingriff in das
Freiheitsrecht des Beschwerdeführers nicht.

2. Ferner fehlt es an einer tragfähigen Grundlage für den vom
Landgericht gezogenen Schluss, dass der Beschwerdeführer mit
hoher Wahrscheinlichkeit erhebliche Straftaten begehen wird,
durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer
geschädigt werden. Der Prognose der Sachverständigen, nach denen
der Beschwerdeführer „sexuelle Übergriffe“ begehen werde, hat
sich das Landgericht zwar nachvollziehbar angeschlossen.
„Sexuelle Übergriffe“ sind aber nicht notwendig erhebliche
Straftaten, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich
schwer geschädigt werden. Vielmehr versteht darunter auch das
Landgericht eine große Bandbreite von Handlungen. Es liegt auf
der Hand, dass es in einer solchen Konstellation erforderlich
ist, spezifisch zur Wahrscheinlichkeit gerade der gesetzlich
einzig bedeutsamen schweren Delikte Stellung zu nehmen. Insofern
lässt sich dem Urteil und dem Unterbringungsbefehl jedoch nur
entnehmen, dass diese „nicht auszuschließen“ seien. Dass ein
solcher geringer Wahrscheinlichkeitsgrad nicht genügt, hat das
bereits ausdrücklich ausgesprochen und
unterliegt angesichts des verfassungsrechtlich notwendigen
Ausnahmecharakters der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch
keinen Zweifeln.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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