Überblick: Die Sicherungsverwahrung und der EGMR (Update)

Die beschäftigt weiter deutsche Gerichte, aktuell das (33 StVK 168 & 579 / 10 K) in einer durch unsere Kanzlei vertretenen Angelegenheit. Das Landgericht hat sich dabei auf die Seite der zahlreichen Gerichte gestellt, die eine umgehende Entlassung verneinen. Dabei ist festzustellen, dass eine nicht minder große Anzahl von Gerichten die gegenteilige Auffassung vertritt.

Ich habe die Gelegenheit genutzt und eine kurze Zusammenfassung des Themas erstellt. Geboten wird ein Überblick über die Entwicklung sowie die Argumente der jeweiligen Gerichte. Der Artikel wird regelmäßig aktualisiert.

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Letztes Update: Am 06.03.2011 wurde dieser Artikel im Wesentlichen aktualisiert und auf den zur Zeit aktuellen Stand gebracht. Weitere Updates folgen, wenn sie angebracht erscheinen.


Hintergrund: Entscheidung des EGMR

Die Sicherungsverwahrung konnte bis zum Jahr 1998 mit einer Höchstdauer von 10 Jahren verhängt werden, die Möglichkeit der Verlängerung war nicht vorgesehen. Dieser Zustand wurde 1998 durch ein Änderungsgesetz verändert (BGBl. I 1998, S. 160), das die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung ermöglicht hat.

Hinsichtlich derjenigen, die vor dieser Gesetzesänderung verurteilt wurden, stellt sich die Frage, ob die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung überhaupt möglich ist. Der EGMR (19359/04) hat diesbezüglich festgestellt, dass Täter, die vor der Gesetzesänderung im Jahr 1998 zu einer Sicherheitsverwahrung verurteilt wurden nicht nachträglich länger in Sicherungsverwahrung belassen werden können.

Die Gründe:

Der EGMR stuft die Sicherungsverwahrung in der gängigen Form in Deutschland als Strafe ein. Die Tatsache, dass die Sicherungsverwahrung ursprünglich bei Verurteilung nur für 10 Jahre vorgesehen war, später aber verlängert wird, geschieht dann gegen den Grundsatz „Keine Strafe ohne Gesetz“, Art. 7 EMRK, verstösst somit gegen das Rückwirkungsverbot.
Gemäß Art. 5 I a EMRK ist eine Freiheitsentziehung auf Grund eines Urteils nur dann möglich, wenn der Freiheitsentzug mit dem Urteil substantiell in Verbindung steht – im Fall der nachträglichen Aufhebung der bis 1998 geltenden 10jährigen Befristung ist dies aber nicht der Fall.

Hinweis: Während es also ursprünglich nur um die Anwendung der aktuellen Regelungen zur Sicherungsverahrung auf die so genannten Altfälle ging, hat der EGMR inzwischen klar gestellt, auch mit der „nachträglichen Sicherungsverwahrung“ Probleme zu haben und darin einen Verstoss gegen die EMRK zu erkennen (EGMR, 17792/07; 20008/07; 27306/04).

Umstritten ist nun vor allem, welche Auswirkungen dieses Urteil auf die zur Zeit in Sicherungsverwahrung Untergebrachten hat, die vor der Gesetzesänderung 1998 verurteilt wurden. Dass der EGMR mit der nachträglichen Sicherungsverwahrung Probleme hat, dürfte sich in Zukunft nicht mehr auswirken, da das System der Sicherungsverwahrung seit dem 01.01.2011 reformiert wurde und die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung bis auf wenige Ausnahmefälle nicht mehr existiert.

Der Gesetzgeber versuchte mit der Reform einen Lösungsweg zu eröffnen, indem für Fälle der vorzeitigen Entlassung auf Grund der hier beschriebenen Problematik die Möglichkeit einer psychischen geschaffen wird. Diese Unterbringung soll nicht mehr durch Strafgerichte stattfinden und sich alleine an psychischen Problemen orientieren, die eine „Freilassung“ nicht möglich machen. Allerdings steht auch dieser Punkt seit längerem in der Kritik, vor allem wird – neben praktischen Problemen – gemäkelt, dass der Bund für dieses Gesetz gar keine Gesetzgebungszuständigkeit habe. Es scheint, hier wurde am Ende zwar ein Lösungsweg ersonnen, der aber erst einmal nur eine weitere Baustelle ist.

Aktuelle Situation: Rechtsprechung in Deutschland

Nach der Entscheidung des EGMR folgte eine Welle widersprüchlicher Entscheidungen deutscher Oberlandesgerichte, wie mit der Entscheidung des EGMR umzugehen sein soll. Kurz (und im Kern falsch) lassen sich zwei Entscheidungsrichtlinien ausmachen:

  1. Sofortige Beendigung der Sicherungsverwahrung in so genannten Altfällen, weil die Entscheidung des EGMR über den entschiedenen Einzelfall hinaus zu beachten ist (so die OLGe Frankfurt a.M., Hamm, Karlsruhe, Schleswig)
  2. Keine sofortige Beendigung, weil die EGMR-Entscheidung nur im Einzelfall zu Beachten ist (so die OLGe Celle, Hamburg, Köln, Koblenz, Nürnberg, Stuttgart)

Es gab eine Änderung der Strafprozesordnung, derzufolge in diesem Streitfall im Ergebnis ein OLG die Streitfrage dem BGH vorzugelegen hat – das Ergebnis sollte nun sein, dass die Frage bundeseinheitlich durch den BGH zu klären ist.

Der BGH – genau genommen dessen einzelne Senate – zeigt sich genauso zerstritten wie die OLG: Zwei Senate sehen eine Bindung an die Entscheidung des EGMR (3. und 4. Senat), ein Senat sieht es aber vollkommen anders (5. Senat). Das Ergebnis: Der Grosse Senat wurde angerufen, um die Streitigkeit zu klären, bis dahin dürfte noch einige Zeit ins Land gehen. Abgeholfen wird sich mit Zurückverweisungen an die OLG, während derer man die Verfahren beim BGH ruhen und neue Gutachten zu den Sicherungsverwahrten einholen lässt (Dazu wurde auch schon hier berichtet). Wie der Grosse Senat sich entscheiden wird, ist zur Zeit gar nicht abzusehen.

Ebenso offen dürfte es beim BVerfG sein, dem inzwischen erneut Verfahren zu der Frage vorliegen (2 BvR 2333/08; 2 BvR 2365/09; 2 BvR 571/10; 2 BvR 740/10; 2 BvR 1152/10). Dazu muss man wissen, dass das BVerfG (in freilich anderer personeller Besetzung) schon früher über die Sicherungsverwahrung zu urteilen hatte und hierbei – anders als der später angerufene EGMR – keine Probleme mit den Menschenrechten sah, wobei das BVerfG natürlich auf das zurückgriff und nicht auf die EMRK. Vor dem Hintergrund der EGMR-Entscheidung wurde das BVerfG nun erneut angerufen und man munkelt schon hinter vorgehaltener Hand, dass vielleicht die Anwendung auf Altfälle nun doch eine – wie auch immer geartete – Einschränkung erleben wird.

Wie gesagt: Offen ist weiterhin alles, BGH und BVerfG werden sicherlich bis Mitte des Jahres 2011 brauchen, das BVerfG eher noch länger, um eine Entscheidung zu fällen (Dieser Beitrag wird sodann wieder aktualisiert). Letztlich wird eine klare vereinheitliche Regelung aber erst dann festzustellen sein, wenn der BGH sich ausdrücklich festgelegt hat.

Die Argumentation im Detail

Im Folgenden werden die einzelnen Argumente der Oberlandesgerichte und der Literatur im Detail (aber komprimiert) aufbereitet – damit lässt sich der Streitstand relativ schnell und verständlich erfassen. Die dargestellten Argumente werden letztlich in den aktuell anstehenden Entscheidungen bei BGH und BVerfG eine Rolle spielen.

Position: Weitere Unterbringung ist rechtmäßig

Das Landgericht Aachen sowie einige weitere deutsche Gerichte sind – entgegen der Entscheidung des EGMR – der Auffassung, dass die Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung bei derart Betroffenen weiterhin rechtlich vertretbar ist.

Als Argumente werden an dieser Stelle vertreten:

  1. Das Rückwirkungsverbot (hier nach Art. 103 GG) betrifft nur missbilligende hoheitliche Reaktionen auf ein rechtswidriges schuldhaftes Verhalten zum Schuldausgleich. Die Sicherungsverwahrung ist hiervon nicht betroffen (BVerfG 2 BvR 2029/01; OLG Nürnberg 1 Ws 315/10)
  2. Das Urteil des EGMR ist in seiner Wirkung nur auf die Sache beschränkt, die verhandelt wurde, keinesfalls auch in ähnlichen Fällen mit Bindungswirkung versehen (OLG Nürnberg 1 Ws 315/10; OLG Koblenz 1 Ws 108/10; OLG Köln 2 Ws 431/10 – so wohl auch das LG Aachen 33 StVK 168 und 579 / 10 K).
  3. Das Urteil des EGMR missachtet die Mehrpoligkeit der Grundrechtsverhältnisse, hier die Schutzpflicht des Staates gegenüber Dritten entsprechend Art. 2 II GG, und ist insofern nicht zwingend zu berücksichtigen (Unter Heranziehung von BVerfGE 111, 307: OLG Nürnberg 1 Ws 315/10; OLG Stuttgart 1 Ws 57/10; OLG Celle, 2 Ws 169/10; OLG Koblenz 1 Ws 108/10 sowie 1 WS 116/10; OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10)
  4. Die Auslegung der Art. 5,7 EMRK durch den EGMR ist keine andere gesetzliche Regelung im Sinne des §2 VI StGB (Begründung teleologisch mit Rückgriff auf Gesetzesbegründung bei OLG Celle, 2 Ws 169/10 sowie 170/10; OLG Koblenz 1 Ws 108/10; OLG Köln 2 Ws 431/10)
  5. Der Heranziehung der Auslegung der Art. 5,7 EMRK durch den EGMR im Rahmen des §2 VI StGB steht schon der Wortlaut des §2 VI StGB entgegen, da der EGMR die Sicherungsverwahrung gerade selbst als Strafe einstuft (OLG Koblenz, 1 Ws 108/10)
  6. Da beim BVerfG (2 BvR 769/10; 2 BvR 571/10) Anträge auf einstweilige Anordnungen zur sofortigen Entlassung abgelehnt wurden ist eine sofortige Entlassung nicht zwingend (OLG Stuttgart, 1 Ws 57/10)

1) Die Sicherungsverwahrung ist keine Strafe

Die Feststellung des BVerfG, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung um keine Strafe handelt, erscheint angesichts der differenzierten Betrachtung des EGMR fragwürdig: Während sich das BVerfG (2 BvR 2029/01, Rn.150ff.) mit dogmatischen Überlegungen begnügt, stellt der EGMR (a.a.O., Rn.136ff.) auf die faktischen Wirkungen ab. Das Argument des BVerfG, dass die faktische Wirkung alleine nicht reichen können, überzeugt angesichts des gewählten Beispiels „“ (Rn.155) nicht, da die vom BVerfG benannten „Nicht-Strafen“ gerade zeitlichen Begrenzungen unterworfen sind.

Wenn das BVerfG auf die psychiatrische Unterbringung (Rn. 156) verweist, die gleichsam ohne Schuld und ohne Begrenzung verhängt werden kann, lässt das BVerfG außen vor, dass die psychiatrische Unterbringung eine Maßnahme aus gesundheitlichem Grund ist. Interessanterweise wird hier dann auch in einem psychiatrischem Krankenhaus untergebracht und nicht – wie bei der Sicherungsverwahrung – in der gleichen Strafvollzugsanstalt in der auch der Regelvollzug stattfindet.

Das Urteil des EGMR betrachtet vollkommen zu Recht, dass sowohl in Wirkung und Vollzug keine nennenswerten Unterschiede zwischen und Sicherungsverwahrung festzustellen sind. Hinzu kommt, dass beides durch Strafgerichte ausgesprochen wird, und nicht die Sicherungsverwahrung – wie etwa die vom BVerfG selbst herangezogene psychiatrische Unterbringung – durch ein eigenes Gericht ausgesprochen wird. Hinzu kommt die mangelnde psychiatrische Betreuung. All diese faktischen Aspekte betrachtet das BVerfG nicht und verweist lediglich auf die unterschiedlichen Zweckrichtungen. Letztlich vermag hier alleine der EGMR zu überzeugen, nicht zuletzt wegen der Widersprüche schon bei den vom BVerfG selbst herangeführten Beispielen.

2) Keine allgemeine Bindungswirkung

Sofern keine allgemeine Bindungswirkung für Urteile des EGMR angenommen wird, verkennt dies die Rechtsprechung des BVerfG. Dieses hat ausdrücklich festgestellt, dass eine Bindungswirkung grundsätzlich allgemein besteht (2 BvR 336/85 – zum damaligen Art. 52 EMRK, nunmehr Art. 44 EMRK) und unlängst (BVerfG, 2 BvR 1481/04) nochmals hervorgehoben:

Die Bindungswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs erstreckt sich auf alle staatlichen Organe und verpflichtet diese grundsätzlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeit und ohne Verstoß gegen die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) einen fortdauernden Konventionsverstoß zu beenden und einen konventionsgemäßen Zustand herzustellen.

Als Grenze dieser Verpflichtung ist alleine der Grundsatz der Bindung an Recht und Gesetz zu beachten (BVerfG 2 BvR 1481/04, 1 BvR 1664/04). Für Gerichte bedeutet das, dass diese verpflichtet sind, das Urteil des EGMR zu beachten, sofern dies ohne Verfassungsverstoß möglich ist (so auch Geiger, Grundgesetz & Völkerrecht, §73 VI 2; der BGH will sich in 4 StR 577/09, Rn.14ff. alleine auf die Berücksichtigung im Rahmen der Auslegung beschränken).

Dabei darf keinesfalls auf Grund des Ranges der EMRK, eingeordnet auf der Ebene von Bundesgesetzen, geschlussfolgert werden, dass sich die Wirkung der Rechtsprechung des EGMR alleine auf diese Ebene beschränkt. Das BVerfG (2 BvR 1481/04) stellt ausdrücklich klar, dass die EMRK sowie die Rechtsprechung des EGMR auch auf Verfassungsebene zu berücksichtigen sind:

Die Europäische Menschenrechtskonvention gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts — auch der Grundrechte und rechtsstaatlichen Garantien — zu berücksichtigen […] Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes

Das BVerfG sah bereits seinerzeit die Gefahr, missverstanden zu werden und hielt daher ausdrücklich fest:

Daraus ist freilich nicht der Schluss zu ziehen, dass Entscheidungen des Gerichtshofs von deutschen Gerichten nicht berücksichtigt werden müssten.

Die teilweise pauschal verneinte Bindungswirkung ist damit im Ergebnis so nicht vertretbar. Sofern argumentiert wird, dass diese Bindungswirkung sich nur auf den konkreten Streitfall bezieht, liegt dem ein Fehlerverständnis des Begriffes „“ zu Grunde. So meint das BVerfG (2 BvR 1481/04):

Art. 46 Abs. 1 EMRK spricht nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus.

Teilweise wird daraus wohl gelesen, dass die Bindung sich nur auf das konkrete Verfahren vor dem EGMR bezieht, was auf eine Verwechslung der Begrifflichkeiten „Streitfrage“ und „Streitsache“ zurück zu führen ist. Das beim BVerfG die gesamte (abstrakte) Rechtsfrage – und nicht nur die (konkrete) Rechtssache – gemeint ist, macht das BVerfG aber selber deutlich, wenn es davon spricht, dass ein Konventionsverstoß insgesamt festgestellt wurde und dieser in Zukunft in Gänze zu vermeiden ist (Satzger, Internationales und europäisches Strafrecht, §11, Rn.101ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht, §3, Rn.30).

Darüber hinaus ist die Entscheidung des EGMR laut BVerfG bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechte zu berücksichtigen, was letzten Endes zu einem Anwendungsverbot konventionswidriger Regelungen führt (so auch Stöcker, NJW 1982, S. 1905, 1909). Wenn in gleichartigen Streitfällen, also bei gleichem Streitgegenstand, das Urteil des EGMR keine unmittelbare Wirkung entfalten würde, wäre dies nicht nur gegen die Vorgabe des BVerfG, sondern bei dem damit verbundenen Verlangen nach einer Gesetzesänderung schlicht überflüssig, da die betroffene Norm ohnehin unwirksam ist (so Stöcker, NJW 1982, S. 1905, 1909) und die gleichartige Handhabung des EGMR auf der Hand liegt.

Dabei muss die Besonderheit des strafrechtlichen Verfahrens bedacht werden: Es gilt, das grundgesetzlich verbürgte Beschleunigungsgebot und Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Da in gleichartigen Fällen der EGMR auch gleich entscheiden wird, steht fest, dass spätestens beim EGMR eine Aufhebung der Sicherungsverwahrung erreicht werden würde. Somit stellt jedes Urteil eines nationalstaatlichen Gerichts, das in Missachtung dieses EGMR-Urteils die Sicherungsverwahrung aufrecht erhält, eine unzulässige Verlängerung des Rechtswegs dar, dessen Ausgang zumindest spätestens vor dem EGMR klar ist. Da also feststeht, dass der Betroffene ohnehin aus der aktuellen Form der Sicherungsverwahrung zu entlassen ist, ist auch mit Blick auf das Beschleunigungsgebot eine weitere Verschleppung der Entlassung nicht vertretbar, geschweige denn Verhältnismäßig.

Anders könnte dies nur sein, wenn abzusehen ist, dass in nächster Zeit eine entsprechende Änderung der Regelungen zur Sicherungsverwahrung zu erwarten ist. Auf eine solche verweist das Landgericht Aachen auch. Das Landgericht Aachen führt aus, dass wenn in nächster Zukunft eine solche (konventionskonforme) Gesetzesänderung zu erwarten wäre, die konventionswidrige Unterbringung bis dahin vertretbar sein könnte.

Jedoch ist festzustellen, dass selbst nach mehr als 6 Monaten seit dem EGMR-Urteil keine Anstalten gemacht werden, die gesetzlichen Grundlagen anzupassen. Das Landgericht Aachen verweist hier selber nur auf „laufende Diskussionen in der Regierungskoalition“. Aktuell sind darüber hinaus sogar Gespräche in der Regierungskoalition abgesagt worden, wobei damit insbesondere die vom Landgericht Aachen herangeführten „Vorschläge“ wieder hinfällig sind. Mit Blick auf diese Entwicklungen, die „politische Sommerpause“ sowie die ohnehin üblichen Laufzeiten im Gesetzgebungsprozess ist damit in nächster Zukunft keine Änderung zu erwarten.

Dabei ist festzustellen, dass das OLG Hamm (III-4 Ws 157/10) zu Recht darauf verweist, dass die Justizministerin die Abarbeitung der „Altfälle“ an die Gerichte „abschiebt“ und politisch wohl nicht im Auge hat. Das Landgericht Aachen bemängelt hier einen fehlenden Beleg seitens des OLG Hamm, der in einer Rede der Bundesjustizministerin anlässlich des 14. Anwaltstages (am 14.05.2010 in Aachen) zu finden ist. Hier führte die Bundesjustizministerin u.a. aus:

Die Konsequenzen der jetzt rechtskräftigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte müssen jetzt Staatsanwaltschaften und Gerichte sorgfältig im Einzelfall bewerten.

Die Ausführungen der Justizministerin machen deutlich, dass politisch – wenn dann einmal etwas geschieht – die Regelung für zukünftige Täter reformiert wird. Während die Bewältigung der hier im Raum stehenden Frage alleine den Gerichten und Staatsanwaltschaften überlassen werden soll.

3) Der EGMR hat die Wechselwirkung mit Art. 2 Grundgesetz nicht beachtet

U.a. das OLG Celle (2 Ws 169/10) brachte die „Mehrpoligkeit“ der Grundrechtsverhältnisse als Argument ein und verwies dazu auf das BVerfG (2 BvR 1481/04). Dort wird diesbezüglich festgehalten:

Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, […] Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des EGMR gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden […]

Hierbei ist zu beachten, dass das BVerfG hinsichtlich der „mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse“ speziell das Zivilrecht vor Augen hatte (dazu auch Kinzig in NStZ 2010, 233). Das OLG Celle (2 Ws 169/10) verweist dann auch richtigerweise darauf, dass das BVerfG das Zivilrecht nur beispielhaft und nicht ausschliesslich aufgeführt hat. Übersieht dabei aber, dass es im Strafrecht zumindest in Teilbereichen einen absoluten Schutz gibt, der nicht durchbrochen werden kann.

Als solche Bereiche im Strafrecht sind die absoluten Grundsätze „keine Strafe ohne Gesetz“ und „kein Verbrechen ohne Strafe“ zu nennen, die nicht durch Wechselwirkung mit anderen Grundrechten aufgebrochen werden können. Insofern ist die, speziell mit Blick auf das Zivilrecht angeführte Argumentation des BVerfG gerade nicht mit dem OLG Celle pauschal auf das Strafrecht zu übertragen, sondern vielmehr nur in entsprechenden Bereichen. Die vorliegende Sicherungsverwahrung kann, da gegen den absoluten Grundsatz des Rückwirkungsverbots bei Strafen verstossen wird, nicht dazu gezählt werden.

Auch die aufgezeigte Bindung an das Urteil des EGMR kann nicht durch diese Gedanken durchbrochen werden. Die Bindung ist nicht davon abhängig, ob ein nationales Gericht den Argumenten des EGMR folgen kann oder möchte. Vielmehr geben die Rechtsprechung des BVerfG sowie der ausdrückliche Wortlaut des Art. 46 EMRK ausdrücklich vor, dass eine unbedingte Bindungswirkung existiert, die nicht im Belieben der Gerichte steht.

4) Die Auslegung durch den EGMR ist kein anderes Gesetz i.S.d. §2 VI StGB

Nur wenn die Bindungswirkung des EGMR-Urteils insgesamt verneint wird, stellt sich die Frage, ob das Urteil als „anderes Gesetz“ i.S.d. §2 VI StGB zu berücksichtigen ist. Diese (vom Landgericht Aachen gänzlich ignorierte!) Überlegung wurde vom BGH (4 StR 577/09, Rn.14) bereits bejaht.

Das OLG Celle (2 Ws 169/10 + 170/10) sowie OLG Koblenz (1 Ws 108/10) möchten diese Ansicht mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers verneinen: Dieser habe ausdrücklich eine Rückwirkende Anwendung gewollt. Eine Anwendung des EGMR-Urteils über §2 VI StGB würde diesen Willen unterlaufen.

Dieses Argument kann angesichts des klaren Wortlauts des §2 VI StGB aber keinen Bestand haben. Im §2 VI StGB wird ausdrücklich normiert, dass es gesetzlich abweichende Regelungen geben kann, die zwingend zu berücksichtigen sind. Würde der Gesetzgeber ausnahmslos mit seiner Reform von 1998 die Rückwirkung angeordnet haben wollen, hätte er diese Regelung anpassen müssen. Da der EMRK der Rang eines Bundesgesetzes zukommt, ist diese auch zwingend im Rahmen des §2 VI StGB zu berücksichtigen (BGH, 4 StR 577/09, Rn.16 unter Bezugnahme auf Grabenwarter in seinem Rechtsgutachten für die Bundesregierung zu den Rechtsfolgen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 42 ff; Ebenso

  • OLG Frankfurt, Beschluss vom 24.06.2010 – 3 Ws 485/10;
  • OLG Frankfurt, Beschluss vom 01.07.2010 – 3 Ws 539/10;
  • OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.07.2010 – 2 Ws 458/09;
  • OLG Hamm, Beschluss vom 06.07.2010 – III-4 Ws 157/10;
  • OLG Hamm, Beschluss vom 22.07.2010 – III-4 Ws 180/10;
  • LG Koblenz, Beschluss vom 19.05. 2010 – 7 StVK 139/10;
  • LG Marburg, Beschluss vom 17.05.2010 – 7 StVK 220/10;
  • LG Kassel, Beschluss vom 15.06.2010 – 34 StVK 162/10 )
  • OLG Schleswig-Holstein vom 15.07.2010 – 1 OJs 2/10 & 1 OJs 3/10
  • wohl auch: BGH, Beschluss vom 21.07.2010 – 5 StR 60/10

Sofern teilweise vorgebracht wird (LG Aachen, 33 StVK 168 und 579 / 10 K), dieser Auslegung stünde das bindende Urteil des BVerfG (BVerfGE 109, 133) entgegen, ist dies nicht durchgreifend. Das Argument kann nur Bestand haben, sofern durch die Berücksichtigung des EGMR-Urteils dem Urteil des BVerfG überhaupt inhaltlich widersprochen wird, was aber zu verneinen ist. Zwar hat das Urteil des BVerfG verfassungsrechtlich die rückwirkende Normierung ausdrücklich zugelassen. Doch ist dies nur eine Mindestanforderung, die durch das einfache Recht durchaus angehoben werden kann (BGH, 4 StR 577/09, Rn.18). Dass das Bundesrecht hier höhere Ansprüche erhebt ist, anders als ein „unterlaufen“ durch niedrigere Ansprüche, kein inhaltlicher Widerspruch.

5) Wortlaut des §2 VI StGB

Das OLG Koblenz (1 Ws 108/10) ist der Auffassung, der §2 VI StGB könne nicht als „Hintertüre“ dienen, um das Urteil des EGMR zu berücksichtigen, denn: Im §2 VI StGB wird nur auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung Bezug genommen. Der EGMR spricht aber davon, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung um eine Strafe handelt, somit um keine Maßregel – was wiederum bedeutet, dass §2 VI StGB – der ja ausdrücklich von einer Maßregel spricht – keine Anwendung finden würde.

Dies vermag zu überzeugen, blendet aber aus, dass man bei dieser Argumentation gerade vorbehaltlos davon ausgeht, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung um eine Strafe handelt. In diesem Fall würde – so ja auch das BVerfG – das Rückwirkungsverbot des Art. 103 GG voll zur Geltung kommen, was eine Anwendung des §67d I StGB (a.F.) zwingend zur Folge hätte.

6) Keine einstweilige Anordnung des BVerfG

Es ist schon methodisch falsch, mit den nicht ergangenen einstweiligen Anordnungen des BVerfG zu argumentieren. Es ist eine Eigenart der einstweiligen Anordnung, dass Rechtsgüter in einer Gefahrenprognose gegeneinander abgewägt werden. Dabei findet naturgemäß keine Hauptsache-Entscheidung statt.

Wenn überhaupt kann hieraus geschlossen werden, dass im jeweils konkreten Fall die individuelle Gefährlichkeit des Täters eine derart hohe Gefährdung der öffentlichen Sicherheit darstellt, dass sein Recht auf Freiheit dem als unterrangig gegenüber gestellt werden kann. Dies ist aber zum einen eine individuelle Feststellung, die im Einzelfall vorgenommen werden muss und daher nicht pauschal übertragen werden kann.
Zum anderen kann diese Abwägung weder für die Frage der Bindungswirkung des EGMR-Urteils von Bedeutung sein noch für die Frage ob eine unerlaubte Rückwirkung vorliegt, da diese Frage mit der Abwägung nichts zu tun hat (andernfalls müsste das Rückwirkungsverbot eine Ausnahme für kollidierende Grundrechte vorsehen). Auch hier gilt daher am Ende, dass der absolute Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ nicht durch Wechselwirkungen mit Grundrechten aufgeweicht werden darf.

Zusammenfassung der Argumente

Die Überlegungen des BVerfG vermögen im direkten Vergleich mit dem EGMR nicht zu überzeugen. Insbesondere die Widersprüche zwischen der Praxis der Sicherungsverwahrung und den vom BVerfG selbst herangezogenen Beispielen werfen hier erhebliche Fragen auf, die das BVerfG – das sich aktuell wieder mit der Thematik beschäftigt – hoffentlich entsprechend würdigen wird.

Sofern man mit einzelnen Stimmen der Literatur eine unbedingte und unmittelbare Bindung nationaler Gerichte an die Rechtsprechung des EGMR annimmt, ist eine Freilassung entsprechender Sicherungsverwahrter unabdingbar. Die Literatur hat hier mitunter nicht nur die dogmatisch überzeugenderen Argumente: Darüber hinaus ist auf die Tatsache zu blicken, dass Betroffene spätestens vor dem EGMR die Freilassung erstreiten werden. Jedes anders lautende Urteil deutscher Gerichte ist insofern nur eine unzulässige Verzögerung und ein Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz. Dieses Argument ist freilich bei der Rechtsprechung nicht vertreten.

Die das Urteil des EGMR berücksichtigende Rechtsprechung will dieses über §2 VI StGB zur Anwendung bringen. Der sodann bestehende (vermeintliche) Widerspruch zum BVerfG wird dadurch gelöst, dass man die Wertung des BVerfG als Mindestanforderung sieht, die einfachgesetzlich durchaus höher angesetzt werden kann. Der Teil der Rechtsprechung, der das ablehnt ist eindeutig ergebnisorientiert und geht bei dieser Rechtsanwendung soweit, notfalls auch gegen den unzweideutigen Wortlaut des §2 VI StGB zu argumentieren.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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