Unmittelbares Ansetzen bei Qualifikationstatbeständen und Regelbeispielen

Unmittelbares Ansetzen bei Qualifikation: Eigentlich bestand Einigkeit dahingehend, dass beim Versuch das unmittelbare Ansetzen zur Qualifikation vorliegt, wenn zum Grunddelikt angesetzt wurde. So galt bis vor kurzem auch unmissverständlich beim BGH, dass bei Qualifikationstatbeständen wie auch bei Tatbeständen mit Regelbeispielen grundsätzlich auf das Ansetzen zur Verwirklichung des Grundtatbestandes abzustellen ist (so noch ausdrücklich BGH, 2 StR 43/16). Daraus folgt, dass sich bei § 244 StGB wie bei § 243 StGB gleichermaßen die einheitlich zu beantwortende Frage stellt, ob mit den festgestellten Tathandlungen zur Wegnahme im Sinne von § 22 StGB angesetzt ist (ebenso BGH, 2 StR 43/16).

Doch Ende 2019 und im Laufe des Jahres 2020 hat der diese klare Linie mehr und mehr aufgeweicht.

Dazu auch bei uns: Wann liegt ein versuchter Diebstahl vor (praktische Beispiele)

Unmittelbares Ansetzen zum Versuch

Das unmittelbare Ansetzen zur Tatbestandsverwirklichung besteht in einem Verhalten des Täters, das nach seiner Vorstellung in ungestörtem Fortgang ohne Zwischenakte zur – vollständigen – Tatbestandserfüllung führt oder im unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in sie einmündet. Diese Voraussetzung kann schon gegeben sein, bevor der Täter eine der Beschreibung des gesetzlichen Tatbestandes entsprechende Handlung vornimmt regelmäßig genügt es allerdings, wenn der Täter ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes verwirklicht. Es muss aber immer das, was er zur Verwirklichung seines Vorhabens unternimmt, zu dem in Betracht kommenden Straftatbestand in Beziehung gesetzt werden.

Der BGH verlässt die bisherige Linie

In den letzten 1-2 Jahren war es eine langsame Entwicklung, die sich in den Anmerkungen von Kudlich in der NSTZ über die Jahre mitverfolgen lässt. Jedenfalls aus meiner Sicht die bahnbrechende Entscheidung war die des BGH mit Aktenzeichen 4 StR 397/19, mit der die bis dahin laufenden Entwicklungen neu gefasst und strukturiert wurden, und die auch von Kudlich recht „irritiert“ zur Kenntnis genommen wurde (dazu Kudlich in NStZ 6/2020 ab Seite 354).

In diesem Fall ging es darum, dass der Angeklagte ausdrücklich noch keine unmittelbar der Wegnahme von Wertgegenständen dienende Handlung vorgenommen hatte. Mit der Verwirklichung des qualifizierenden Tatbestandsmerkmals des Einbrechens im Sinne des §§ 244 Abs. 4, 243 Abs. 1 Nr. 1 StGB, das nach seinem Vorstellungsbild der tatbestandsmäßigen Wegnahmehandlung zeitlich und räumlich unmittelbar vorgelagert war und ohne weitere Zwischenschritte in die Diebstahlshandlung münden sollte, hat er aus Sicht des BGH jedoch zur Tatbestandsverwirklichung unmittelbar angesetzt. Hierzu stellte der Senat dann weiter klar:

Soweit in einzelnen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen worden ist, dass die Prüfung des Versuchsbeginns grundsätzlich an der Verwirklichung des Grundtatbestandes zu orientieren (…) oder in den genannten Konstellationen trotz der Verwirklichung eines Merkmals des Qualifikationstatbestands ein unmittelbares Ansetzen zu verneinen sei, wenn es zur Herbeiführung des tatbestandlichen Erfolgs noch eines – weiteren – Willensimpulses des Täters bedürfe (…) ist damit ebenfalls nur das Erfordernis kritischer Prüfung umschrieben, ob der Täter im jeweiligen Einzelfall nach seiner Vorstellung von der Tat bereits die Schwelle überschritten hat, die ‒ ohne weitere Zwischenakte (…) in die vollständige Verwirklichung des Tatbestands münden soll.

BGH, 4 StR 397/19

Das liest sich nun erstmal so, als würde man einfach eine Gesamtbetrachtung „wie bisher“ vornehmen und prüfen, ob beim unmittelbaren Ansetzen der Qualifikation (etwa dem Aufbohren eines Fensters) nicht schon das Ansetzen zur Wegnahmehandlung als Grunddelikt zu erkennen ist. Doch es gab am Ende einen Satz, der irritierte und den auch Kudlich zur kritischen Würdigung aufgriff: Ausdrücklich und unmissverständlich führt der 4. Senat aus, dass wenn der bisherigen Rechtsprechung des 5. Strafsenats die Rechtsauffassung zugrunde liegen sollte, dass die Annahme eines Versuchs in Fällen des Einbruchsdiebstahls generell und losgelöst von den Feststellungen im Einzelfall ausscheidet, solange der Täter nicht unmittelbar zur Wegnahme angesetzt hat, der 4. Senat dem nicht folgen könne. Sowas lässt aufhorchen wenn man die Dogmatik dahinter beachtet – Kudlich vermutete hierzu noch einfach eine unsaubere Formulierung des BGH. Wie sich nun zeigt, war die Hoffnung falsch.

Der 5. Senat postiert sich zum unmittelbaren Ansetzen bei der Qualifikation

Ich möchte nun einige Monate nach hinten springen, zuerst in den April 2020, hier findet sich ein Beschluss des 5. Senats, der folgendes ausführt:

Nicht erforderlich für das unmittelbare Ansetzen zur geplanten Wegnahme ist, dass der angegriffene Schutzmechanismus auch erfolgreich überwunden wird (…) Deshalb reicht der Beginn des Einbrechens, Einsteigens oder Eindringens im Sinne von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB regelmäßig aus, um einen Versuchsbeginn anzunehmen (…) Soweit die bisherige Rechtsprechung des Senats entgegensteht (…), hält er hieran nicht fest.

BGH, 5 StR 15/20

Und auch später, im Mai 2020 stellt der 5. Senat ausdrücklich klar, dass für den Versuchsbeginn beim regelmäßig ein Angriff auf einen gewahrsamssichernden Schutzmechanismus ausreicht, wenn sich für den Fall von dessen Überwindung der Täter nach seinem Tatplan ohne tatbestandsfremde Zwischenschritte, zeitliche Zäsur oder weitere eigenständige Willensbildung einen ungehinderten Zugriff auf die erwartete Beute vorstellt. Dies führt der 5. Senat aus unter ausdrücklicher Bezugnahme auf obige Entscheidung 4 StR 397/19 mit Klarstellung „unter Aufgabe früherer abweichender Rechtsauffassung“. Dies war auch angezeigt, dass noch in BGH 5 StR 274/19 hatte der 5. Senat alleine das aufbohren bzw. „anbohren“ eines Fensterrahmens gerade nicht als versuchten Diebstahl gewertet!

Änderung nur der Terminologie oder der Rechtsprechung?

Anfangs war ich selber unsicher und auch Kudlich verstehe ich in seinen Kommentaren so, dass er, nicht ganz weiss, wie er mit dieser Rechtsprechung des BGH umgehen soll. Jedenfalls der 4. Senat sieht nun wieder eine heile Welt, wie er Mitte Mai 2020 klarstellte:

Der Senat hatte zunächst angeregt, den Fall 5 der Urteilsgründe gemäß § 154 Abs. 2 StPO einzustellen. Ausschlaggebend hierfür war die Rechtsauffassung des 5. Strafsenats, wonach ein Ansetzen zum Versuch des Diebstahls noch nicht vorliegt, wenn lediglich zur Verwirklichung eines Regelbeispiels oder einer Qualifikation angesetzt worden ist (…). Der Senat hat diese Rechtsauffassung zwar nicht geteilt, wollte aber aus prozessökonomischen Gründen ein langwieriges Anfrageverfahren vermeiden. Mittlerweile hat der 5. Strafsenat jedoch seine entgegenstehende Rechtsauffassung aufgegeben (…).

BGH, 4 StR 514/19

Das Problem ist, dass wenn man auch nur die wenigen oben zitierten BGH-Entscheidungen liest, man immer wieder darüber stolpert, dass der BGH zwar mal meint, man müsse halt prüfen, ob das unmitelbare Ansetzen des Qualifikationsmerkmals zugleich, weil nahtlos verbunden, das unmittelbare Ansetzen zum Grunddelikt (hier: Wegnahmehandlung) darstellt. Somit am Ende über diese Brücke gleichwohl die Verwirklichung des Grunddeliktes darstellen würde; aber zugleich wird immer wieder klargestellt, dass gerade die Wegnahmehandlung nicht ausschlaggebend sein soll. Dies mit einer Vehemenz, dass Kudlich in der NStZ zu Recht fragt, ob man hier noch von unsauberem Ausdruck reden kann. Dabei sollte man sich nicht davon in die Irre führen lassen, dass der 4. Senat in der Entscheidung 4 StR 397/19 ständig viele Fundstellen benennt – dies darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass an dieser Stelle althergebrachte Rechtsprechung zumindest in einem neuen Licht interpretiert wird.

Hinweis: Der 6. Senat hat sich angeschlossen, allerdings ist nicht ganz klar, wie stark – er verwendet die Formulierung „kann“ und es ging mit einem eingschlagenen Fenster um einen eher einfachen Fall.

Jedenfalls muss man vorsichtig sein, alleine weil (nur) ein Qualifikationsmerkmal verwirklich ist, ist der Versuchsbeginn jedenfalls nicht (mehr) ausgeschlossen. Diese vormals klar vertretene Position wurde vom BGH ausdrücklich aufgegeben. Beendet ist die Entwicklung noch lange nicht, vielmehr denke ich, dass der BGH – in altehrwürdiger Tradition – auf Basis des nunmehr bereiteten Bodens wieder einmal zunehmend bisher existierende klare Linien aufweichen und eine Vorverlagerung des Ansetzens zum Versuch betreiben wird.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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