EUGH zum Verbot der Doppelbestrafung – §54 SDÜ vs. Grundrechtecharta

„Es verstößt nicht gegen die Charta der Grundrechte, dass im Schengen-Raum das Verbot der Doppelbestrafung nur zur Anwendung kommt, wenn die in einem Mitgliedstaat verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird“ – so hat der EUGH (C-129/14, „Zoran Spasic“) entschieden.

Nach dem Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (SDÜ) darf eine Person, die in einem Staat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch einen anderen Staat wegen derselben Tat nicht verfolgt werden (Grundsatz ne bis in idem). Das SDÜ macht die Anwendung dieses Grundsatzes jedoch davon abhängig, dass die verhängte Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (im Folgenden: Vollstreckungsbedingung). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union sieht den Grundsatz ne bis in idem dagegen ohne ausdrückliche Bezugnahme auf eine solche Bedingung vor.

Herr Zoran Spasic, ein serbischer Staatsangehöriger, wird in Deutschland strafrechtlich verfolgt, weil er 2009 in Mailand einen begangen haben soll. (Eine Privatperson soll ihm 40 000 Euro in kleinen Scheinen im Tausch gegen 500-Euro-Noten übergeben haben, die sich später als erwiesen hätten.) Wegen dieser Tat wurde er bereits in Italien zu einer von einem Jahr und einer von 800 Euro verurteilt. Herr Spasic, der sich wegen anderer Delikte in Österreich in Haft befand, zahlte zwar die Geldstrafe, verbüßte aber die Freiheitsstrafe nicht.

Aufgrund eines in Deutschland erlassenen Europäischen Haftbefehls übergaben die österreichischen Behörden Herrn Spasic den deutschen Behörden. Er befindet sich seit Ende 2013 in Deutschland wegen des in Italien begangenen Betrugs in . Er macht geltend, dass er nach dem Grundsatz ne bis in idem wegen dieser Tat nicht mehr verfolgt werden könne, weil gegen ihn in Italien bereits ein rechtskräftiges und vollstreckbares Urteil ergangen sei. Nach Ansicht der deutschen Behörden kommt der Grundsatz ne bis in idem im Hinblick auf das SDÜ nicht zur Anwendung, weil die Freiheitsstrafe in Italien noch nicht vollstreckt worden sei. Herr Spasic hält dem entgegen, dass eine Einschränkung der Charta der Grundrechte durch die im SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung nicht zulässig sei und dass er aus der Haft entlassen werden müsse, da er die Geldstrafe von 800 Euro beglichen habe und damit die verhängte Sanktion vollstreckt worden sei.

In seinem heutigen Urteil führt der vom Oberlandesgericht Nürnberg angerufene Gerichtshof aus, dass die im SDÜ enthaltene Vollstreckungsbedingung eine mit der Charta der Grundrechte vereinbare Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem darstellt. In den Erläuterungen zur Charta wird nämlich hinsichtlich des Grundsatzes ne bis in idem ausdrücklich auf das SDÜ Bezug genommen, so dass es diesen in der Charta verankerten Grundsatz in zulässiger Weise einschränkt. Die im SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung stellt auch den Grundsatz ne bis in idem als solchen nicht in Frage, denn sie soll lediglich verhindern, dass Personen, die in einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt wurden, einer Strafe entgehen können. Schließlich steht die Vollstreckungsbedingung in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel (das darin besteht, im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten) und geht nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um zu verhindern, dass rechtskräftig Verurteilte der Strafe entgehen.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass in einem Fall wie dem von Herrn Spasic, in dem sowohl eine Freiheitsstrafe als auch eine Geldstrafe als Hauptstrafen verhängt wurden, die bloße Zahlung der Geldstrafe nicht den Schluss zulässt, dass die Sanktion im Sinne des SDÜ bereits vollstreckt worden ist oder gerade vollstreckt wird. Zwar bestimmt das SDÜ, dass „die Sanktion“ bereits vollstreckt worden sein oder gerade vollstreckt werden muss, doch erfasst diese Bedingung auch den Fall, dass zwei Hauptstrafen verhängt wurden. Jede andere Auslegung würde dazu führen, dass der im SDÜ aufgestellte Grundsatz ne bis in idem seines Sinns beraubt würde, und würde die sachgerechte Anwendung des SDÜ beeinträchtigen. Da Herr Spasic nur die Geldstrafe gezahlt, aber die einjährige Freiheitsstrafe nicht verbüßt hat, ist die im SDÜ vorgesehene Vollstreckungsbedingung in seinem Fall nicht erfüllt.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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