BGH fragt EuGH zur Zulässigkeit der Erstattungspflicht nach Art. 101 AEUV: Der BGH (KZR 74/23) fragt beim EuGH an, ob Art. 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) es zulässt, dass eine juristische Person (z. B. eine GmbH oder AG), die wegen eines Kartellverstoßes von einer Wettbewerbsbehörde mit einer Geldbuße belegt wurde, von ihrem Leitungsorgan (z. B. Geschäftsführer oder Vorstand) den Ersatz dieses Bußgeldes verlangen kann.
Hintergrund und Anlass der Vorlage
Konkret geht es um ein Unternehmen der Edelstahlbranche, dessen Geschäftsführer (gleichzeitig Vorstand der Holding) über Jahre ein verbotenes Preiskartell organisiert hatte. Dafür verhängte das Bundeskartellamt gegen die Gesellschaft eine Geldbuße in Millionenhöhe. Die Gesellschaft verlangt nun von ihrem ehemaligen Geschäftsführer Ersatz dieses Bußgeldes, weil er durch seine Pflichtverletzung den Schaden verursacht hat.
Die Gerichte in den Vorinstanzen waren der Auffassung, dass die nationalen Regelungen zur Organhaftung (§ 43 Abs. 2 GmbHG, § 93 Abs. 2 AktG) so auszulegen sind, dass ein solcher Rückgriff auf das Organ gerade nicht zulässig ist. Begründet wird dies damit, dass die Geldbuße gerade das Unternehmen treffen und sanktionieren soll — würde dieses sich das Geld über Schadensersatz zurückholen, wäre die Sanktionswirkung geschwächt.
Der BGH sieht hier eine grundsätzliche ungeklärte Rechtsfrage: Das deutsche Gesellschaftsrecht enthält keine ausdrückliche Regelung, die einen solchen Rückgriff ausschließt. Gleichzeitig müssen aber Geldbußen für Kartellverstöße nach EU-Recht wirksam, abschreckend und verhältnismäßig sein. Es ist also unklar, ob ein Rückgriff diese unionsrechtlichen Ziele unterlaufen würde.
Juristische Kernfrage im Detail
Die zentrale juristische Frage lautet: Steht es im Einklang mit Art. 101 AEUV, wenn eine Gesellschaft das Kartellbußgeld — das gerade sie selbst als „Unternehmen“ nach EU-Recht sanktionieren soll — im Innenverhältnis auf das verantwortliche Leitungsorgan abwälzt?
Konkret zu prüfen ist dabei:
- Soll die Buße primär das Unternehmensvermögen treffen, um kartellrechtlich wirksam abzuschrecken?
- Oder dürfen die zivilrechtlichen Organhaftungsregeln auch hier greifen, um das persönliche Fehlverhalten der Leitungsperson finanziell zu sanktionieren und so zusätzlich Prävention zu bewirken?
- Wäre eine solche Erstattung mit den Sanktionszielen des EU-Kartellrechts (Abschreckung, effektive Durchsetzung) vereinbar?
Da diese Fragen Auswirkungen auf die Auslegung und Anwendung von EU-Recht haben, hat der BGH das Verfahren ausgesetzt und die Frage dem EuGH vorgelegt.
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