Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 15. April 2003 (Az. 1 StR 64/03) bietet eine tiefgehende Analyse der rechtlichen Rahmenbedingungen für die vernehmungsersetzende Vorführung von Bild-Ton-Aufzeichnungen und die Anforderungen an Verfahrensrügen.
Der Beschluss klärt mehrere wesentliche Punkte, darunter die Voraussetzungen für die Vorführung von Aufzeichnungen, die Rolle der Akteneinsicht und die Pflichten zur ergänzenden Vernehmung. In diesem ausführlichen Blog-Beitrag werden die Hintergründe der Entscheidung, die rechtlichen Probleme und die Implikationen für die Praxis detailliert besprochen.
Sachverhalt
Das Landgericht München I hatte den Angeklagten wegen Vergewaltigung und zweier versuchter Vergewaltigungen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, sowie wegen weiteren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Taten betrafen die am 18. März 1987 geborene Ni. J., die Tochter eines Arbeitskollegen des Angeklagten. Die Revision des Angeklagten erhob sowohl Verfahrensrügen als auch die Sachbeschwerde.
Rechtliche Analyse
1. Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes
Die Revision machte als absoluten Revisionsgrund eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes geltend (§ 338 Nr. 6 StPO, § 169 GVG). Sie beanstandete, dass während des Ausschlusses der Öffentlichkeit nicht nur die Vernehmung eines Polizeibeamten und die Augenscheinseinnahme einer Bild-Ton-Aufzeichnung stattfanden, sondern auch über die Vereidigung und Entlassung des Zeugen befunden sowie die Hauptverhandlung unterbrochen und ein Fortsetzungstermin bestimmt wurden.
Der BGH stellte klar, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit für den gesamten Verfahrensabschnitt gilt, der mit der Zeugenvernehmung in enger Verbindung steht oder sich aus ihr entwickelt. Dies schließt auch die Entscheidung über die Vereidigung und Entlassung des Zeugen ein. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Öffentlichkeit lag daher nicht vor, da die Verfahrensvorgänge in einem engen sachlichen Zusammenhang mit der Vernehmung standen und daher von dem Ausschluss umfasst waren.
2. Ablehnung des Beweisantrags
Die Verteidigung beantragte die Vernehmung der Cousine der Geschädigten, Sa. J., zum Nachweis, dass ein behauptetes Gespräch über sexuelle Vorfälle nicht stattgefunden habe und die Geschädigte zu keinem Zeitpunkt während des Geschlechtsverkehrs zwischen der Zeugin und dem Angeklagten im Zimmer gewesen sei.
a) Negativtatsachen
Die Revision rügte die Ablehnung des Beweisantrags als rechtsfehlerhaft. Der BGH stellte fest, dass die erste Beweisbehauptung (Nichtstattfinden eines Gesprächs) eine negative Beweistatsache darstellte, die von der Zeugin aufgrund eigener Wahrnehmung hätte bestätigt werden können. Die Strafkammer hatte jedoch auch die Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache berücksichtigt, was aus dem Ablehnungsbeschluss erkennbar war und somit zulässig war.
b) Zulässige Form der Verfahrensrüge
Für die zweite Beweisbehauptung (Nichtanwesenheit der Geschädigten im Zimmer) war die Verfahrensrüge nicht in zulässiger Form erhoben, da die polizeiliche Vernehmungsniederschrift nicht vollständig mitgeteilt wurde. Die Geschädigte hatte in ihrer polizeilichen Vernehmung ausgesagt, dass sie nur kurz ins Zimmer geschaut habe, was die Möglichkeit offen ließ, dass die benannte Zeugin dies nicht bemerkt hatte.
3. Vernehmungsersetzende Vorführung und ergänzende Vernehmung
Die Strafkammer führte die Bild-Ton-Aufzeichnung der Vernehmung der Geschädigten durch die Ermittlungsrichterin vor, was gemäß § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO die Vernehmung der Zeugin ersetzte. Der Verteidiger beantragte die ergänzende Vernehmung der Geschädigten, da ihm und dem Angeklagten vor der aufgezeichneten Vernehmung keine Akteneinsicht gewährt worden war.
a) Zulässigkeit der Vernehmungsersetzung
Der BGH stellte klar, dass die Zulässigkeit der Vorführung nach § 255a Abs. 2 Satz 1 StPO nicht von einer vorherigen Akteneinsicht abhängig ist. Die Gelegenheit zur Mitwirkung an der Vernehmung ist ausreichend. Das Fragerecht des Beschuldigten bleibt gewahrt, solange er die Möglichkeit hat, an der aufgezeichneten Vernehmung teilzunehmen und Fragen zu stellen.
b) Aufklärungspflicht und ergänzende Vernehmung
Die Aufklärungspflicht des Richters kann eine ergänzende Vernehmung erfordern, wenn nach der aufgezeichneten Vernehmung neue, klärungsbedürftige Fragen aufkommen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Verteidiger keine Akteneinsicht hatte und somit keine Gelegenheit, alle relevanten Fragen zu stellen. Der BGH betonte, dass es stets eine Frage des Einzelfalls ist, ob eine ergänzende Vernehmung notwendig ist.
Fazit
Die Entscheidung des BGH vom 15. April 2003 (1 StR 64/03) verdeutlicht die rechtlichen Anforderungen an die Vernehmungsersetzung durch Bild-Ton-Aufzeichnungen und die ergänzende Vernehmung von Zeugen. Die klare Unterscheidung zwischen der Zulässigkeit der Vernehmungsersetzung und der Pflicht zur ergänzenden Vernehmung stellt sicher, dass die Rechte des Beschuldigten gewahrt bleiben, ohne die Zeugen unnötig zu belasten. Für die Praxis bedeutet dies, dass Verteidiger sorgfältig auf die Einhaltung dieser Vorgaben achten müssen, um die Interessen ihrer Mandanten effektiv zu schützen.
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