Das Thüringer Oberlandesgericht hat in einem aktuellen Beschluss vom 30. Januar 2025 (Aktenzeichen: 3 Ws 479/24) wichtige Fragen zur Prüfung eines Bewährungswiderrufs bei neuen Straftaten entschieden. Der Fall betraf einen Verurteilten, dessen Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde, nachdem er in der Bewährungszeit neue Straftaten begangen hatte. Der Beschluss des Oberlandesgerichts gibt Aufschluss über die rechtlichen Grundlagen und die Voraussetzungen für einen solchen Widerruf.
Sachverhalt
Der Betroffene war mit Urteil des Landgerichts Gera vom 2. Oktober 2023 wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt.
In der Bewährungszeit kam es zu weiteren Verurteilungen des Betroffenen: wegen fahrlässigen Gebrauchs eines Fahrzeugs ohne Haftpflichtversicherungsvertrag, wegen Anordnens oder Zulassens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, wegen Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Die Bewährungshilfe berichtete, dass der Betroffene wegen seiner Schuldenproblematik an die Schuldenberatung verwiesen worden sei, die aufgesucht worden sei. Ein Drogentest habe positiv auf Amphetamine und Derivate reagiert. Der Betroffene sei zudem in gemeinnützige Arbeit vermittelt worden und suche die Suchtberatung auf.
Das Landgericht Gera hat mit Beschluss vom 18. November 2024 die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen und die erbrachten Arbeitsstunden auf die Strafe angerechnet. Gegen diesen Beschluss hat der Betroffene sofortige Beschwerde eingelegt, die das Thüringer Oberlandesgericht teilweise für begründet erachtet hat.
Juristische Analyse
Das Thüringer Oberlandesgericht hat in seinem Beschluss die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei neuen Straftaten ausführlich dargelegt.
Neue Straftaten und Kriminalprognose
Nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB rechtfertigt eine neue Straftat allein noch nicht den Widerruf; der Verurteilte muss vielmehr durch deren Begehung gezeigt haben, dass sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, nicht erfüllt hat. Es muss damit nunmehr eine ungünstige Prognose vorliegen, für die die neue Straftat ein gewichtiges Indiz ist. Die Erwartung wird dabei durch jede neue Tat von einigem Gewicht in Frage gestellt, andererseits stehen neue Straftaten einer (nach wie vor) günstigen Prognose nicht zwingend entgegen.
Im vorliegenden Fall hat das Gericht die neuen Taten des Betroffenen als eher geringfügige Taten bewertet. Mit 40 und 60 Tagessätzen bewegen sich die Verurteilungen am unteren Rand der Kriminalität. Der Betroffene hat im Rahmen der Anhörung angegeben, die Bewährung sei ihm bis März 2024 schwer gefallen. Einen „Führerschein” und ein Auto habe er seit April 2024 nicht mehr. Für die Taten gab der Betroffene die Erklärung, er habe am Tag der Geburt seiner behinderten Tochter schnell ins Krankenhaus nach Jena fahren wollen und sei auf der Fahrt dorthin angehalten worden. Am 2. April 2024 habe er das Fahrzeug von dort in eine nahegelegene Werkstatt fahren wollen, um es zu verkaufen, und sei wieder „angehalten” worden.
Das Gericht hat die neuen Taten als eher geringfügige Taten bewertet und ist zu der Auffassung gelangt, dass die Erwartung für gerechtfertigt gehalten werden kann, dass der Betroffene keine weiteren Straftaten begeht. Die neuen Lebensumstände des Betroffenen, insbesondere das Herauslösen aus dem bisherigen negativen sozialen Umfeld, tragen die ursprüngliche Erwartung straffreien Lebens eher als die Befürchtung, der Betroffene könne allein durch den Vollzug der ausgeurteilten Strafe von weiteren Straftaten abgehalten werden.
Verstöße gegen Weisungen und Auflagen
Das Landgericht hat den Widerruf auch darauf gestützt, der Betroffene habe die im Beschluss vom 2. Oktober 2023 erteilten Weisungen gröblich und beharrlich nicht erfüllt. Das Oberlandesgericht hat jedoch festgestellt, dass nach dem derzeitigen Sachstand keine konkreten Umstände ersichtlich sind, die die Besorgnis der Begehung weiterer Straftaten rechtfertigten. Die angeführten Straftaten allein begründen keine ungünstige Kriminalprognose. Sie liegen im unteren Bereich der Kriminalität und stellen sich nach den aktenkundigen Umständen eher als „Ausrutscher” denn als Anhaltspunkte für eine kriminelle Neigung des Betroffenen zur gewohnheitsmäßigen Begehung von Straftaten dar.
Die Bewährungshilfe hat im Rahmen der Anhörung bekundet, die Zeit um die Geburt der Tochter sei für den Betroffenen „menschlich, emotional sehr angespannt” gewesen. Er habe in gewissen „Zwangskontexten” gestanden. Die Situation nach dem Erstgespräch vom 20. Dezember 2023 habe sich bereits als „destruktiv” dargestellt. Er habe etwa versucht, sein Leben ohne Hilfe von außen in den Griff zu bekommen. Sein Leben habe das erwartete Kind, hätten aber auch „Drogen in seinem Umfeld” verkompliziert. Er habe sich zunehmend von der Vorstellung gelöst, es „selber schaffen zu können”. Der Umzug zunächst nach G. zur Lebensgefährtin habe einen „Knacks” verursacht. Es sei zum Zerwürfnis der Beziehung gekommen, was die Bewährungshilfe grundsätzlich als „nicht schlecht” bewertet hat, weil sich die Beziehung nach deren Auffassung als Co-Abhängigkeit des Betroffenen von der Kindesmutter dargestellt habe. Nach seinem Umzug zu seinen Eltern sei er von diesen unter „knallharte Auflagen” gestellt worden und laufe seitdem „stabil”.
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Verlängerung der Bewährungszeit
Nach § 56f Abs. 2 StGB hat das Gericht vom Widerruf abzusehen, wenn es ausreicht, weitere Auflagen bzw. Weisungen zu erteilen oder die Bewährungszeit zu verlängern. Das Oberlandesgericht hat entschieden, dass eine Verlängerung der Bewährungszeit um sechs Monate ausreicht, um den Widerruf der Strafaussetzung zu vermeiden. Der Verurteilte hat die Arbeitsauflage nunmehr in vollem Umfang erbracht, und weitere Umstände, die für die Genugtuung von Bedeutung sein könnten, sind nicht ersichtlich.
Auch hier wird nochmals deutlich, dass die Gerichte bei der Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung eine sorgfältige(re) Abwägung aller relevanten Umstände vornehmen müssen. Dabei kommt es nicht nur auf die Schwere der neuen Straftaten an, sondern auch auf die Gesamtumstände des Einzelfalls, einschließlich der sozialen Verhältnisse des Verurteilten und seiner Bereitschaft, sich künftig straffrei zu führen.
Fazit
Der Beschluss des Thüringer Oberlandesgerichts gibt wichtige Aufschlüsse über die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung bei neuen Straftaten. Das Gericht hat betont, dass neue Straftaten allein noch nicht den Widerruf rechtfertigen, sondern dass eine ungünstige Prognose vorliegen muss, für die die neue Straftat ein gewichtiges Indiz ist. Die Erwartung wird dabei durch jede neue Tat von einigem Gewicht in Frage gestellt, andererseits stehen neue Straftaten einer (nach wie vor) günstigen Prognose nicht zwingend entgegen.
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