Mit Urteil vom 11. März 2025 (Az. 6 U 12/24) hat das OLG Stuttgart ein wichtiges Urteil zum Fernabsatzwiderrufsrecht gefällt. Im Zentrum stand die Frage, ob eine nur abstrakte Widerrufsbelehrung den Fristlauf auslöst – insbesondere dann, wenn sie den Verbraucher selbst über die Anwendungsvoraussetzungen rätseln lässt.
Das Gericht entschied zugunsten des Verbrauchers und sprach ihm die Rückzahlung des Kaufpreises eines online bestellten Elektrofahrzeugs zu – trotz Nutzung des Fahrzeugs und behauptetem Wertverlust. Die Entscheidung hat Signalwirkung für die Praxis des Online-Handels mit hochwertigen Konsumgütern.
Sachverhalt
Der Kläger bestellte am 2. Mai 2022 über den Webshop der Beklagten ein Elektroauto zum Preis von 66.170 €. Die Widerrufsbelehrung enthielt eine klassische „Wenn“-Formulierung: Wenn Sie Verbraucher sind und dieser Vertrag unter ausschließlicher Verwendung von Fernkommunikationsmitteln geschlossen wurde, … haben Sie ein Widerrufsrecht. Weitere Hinweise zur persönlichen Verbrauchereigenschaft oder zum genauen Fristbeginn fehlten. Erst am 25. September 2023 erklärte der Kläger den Widerruf. Die Beklagte verweigerte daraufhin Rückzahlung und berief sich auf Fristablauf sowie Rechtsmissbrauch.
Rechtliche Bewertung
1. Fehlende ordnungsgemäße Belehrung
Das OLG stellte klar: Eine Widerrufsbelehrung, die nicht ausdrücklich mitteilt, dass im konkreten Fall ein Widerrufsrecht besteht, sondern lediglich abstrakt dessen Voraussetzungen aufzählt, ist nicht gesetzeskonform. Der Unternehmer ist verpflichtet, das Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechts selbst zu prüfen und den Verbraucher eindeutig darüber zu informieren.
Diese Pflicht ergibt sich aus einer richtlinienkonformen Auslegung von Art. 246a § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EGBGB. Die Belehrung muss klar und verständlich im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. h der Verbraucherrechterichtlinie sein. Eine bloß abstrakte Wiedergabe verlagert die Subsumtion unzulässig auf den Verbraucher.
2. Verlängerung der Widerrufsfrist
Weil keine ordnungsgemäße Belehrung erfolgt war, hatte die 14-tägige Widerrufsfrist nie zu laufen begonnen. Der Widerruf war deshalb auch rund zehn Monate nach Vertragsschluss noch wirksam. Das Gericht folgte nicht der Auffassung, dass eine solche lange Frist unverhältnismäßig sei – vielmehr sei sie Folge unternehmerischer Nachlässigkeit.
3. Keine Wertersatzpflicht
Die Beklagte verlangte Wertersatz für den angeblichen Wertverlust des Fahrzeugs (über 31.000 €). Auch hier wies das Gericht die Ansprüche zurück: Gemäß § 357 Abs. 7 BGB entsteht eine Wertersatzpflicht nur, wenn zuvor ordnungsgemäß über das Widerrufsrecht belehrt wurde – was hier gerade nicht der Fall war. Auch die Nutzung des Fahrzeugs durch den Kläger nach Widerruf sei unschädlich.
4. Kein Rechtsmissbrauch
Das Gericht wies den Einwand zurück, der Widerruf sei rechtsmissbräuchlich. Auch wer bewusst wartet, um wirtschaftlich günstige Zeitpunkte für den Widerruf zu wählen, handelt nicht missbräuchlich, wenn der Unternehmer selbst die Belehrungspflicht verletzt.
Kontext
Das OLG Stuttgart stärkt die Verbraucherschutzrechte im digitalen Handel deutlich. Die Verantwortung zur rechtssicheren Information liegt allein beim Unternehmer. Wer auf Musterformeln oder rechtliche Andeutungen setzt, ohne dem Kunden das „Ja, Sie dürfen widerrufen“ klar mitzuteilen, handelt auf eigenes Risiko.
Widerrufsbelehrungen sind kein formales Beiwerk: Nur klare, verständliche und auf den konkreten Fall bezogene Belehrungen setzen Fristen in Gang. Das Urteil mahnt zur Genauigkeit – und eröffnet Kunden Handlungsspielräume, die teure Folgen für Anbieter haben können. Wobei man sich schon fragen darf, wie angemessen solche Rechtsprechung ist – es bleibt abzuwarten, was der BGH dazu sagt.
Fazit
Das Urteil steht in einer Linie mit der verbraucherfreundlichen BGH-Rechtsprechung (vgl. etwa BGH, XI ZR 19/23), geht aber noch darüber hinaus, indem es dem Unternehmer eine klare Pflicht zur Subsumtion auferlegt. Die Entscheidung hat besondere Relevanz für alle Fernabsatzverträge im Hochpreissegment – etwa Fahrzeug-, Möbel- oder Elektronikverkäufe. Wer auf abstrakte Belehrungen setzt, riskiert jahrelange Widerrufsmöglichkeiten und Rückabwicklungen selbst bei vollständiger Nutzung.