Offenlegung von „relevanten Beweismitteln“ zur Durchsetzung des Wettbewerbsrechts

Die Offenlegung von „relevanten Beweismitteln“ im Sinne des
Unionsrechts umfasst auch Dokumente, die eine Partei durch die
Zusammenstellung oder Klassifizierung von Informationen, Kenntnissen oder Daten, die sich in ihrer Verfügungsgewalt befinden, erstellen kann, wie der EUGH (C-163/21) hervorhebt.

In Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit müssen die nationalen Gerichte jedoch berücksichtigen, ob die Arbeitsbelastung und die Kosten, die durch eine solche Erstellung von Dokumenten verursacht werden können, angemessen sind: Die 2014/104 soll die private Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften der Union erleichtern, insbesondere durch Vorschriften über die Offenlegung von Beweismitteln vor nationalen Gerichten im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten über den Ersatz von Schäden, die aufgrund von gegen das Wettbewerbsrecht der Union verstoßenden Verhaltensweisen erlitten wurden.

Sachverhalt

Am 19. Juli 2016 stellte die Kommission fest, dass 15 internationale Lkw-Hersteller an Zuwiderhandlungen gegen
das Wettbewerbsrecht beteiligt waren, indem sie zwischen Januar 1997 und Januar 2011 Absprachen über Preise und Preiserhöhungen getroffen hatten.

Personen, die von diesem Beschluss erfasste Lastkraftwagen erworben hatten, beantragten beim Handelsgericht Nr. 7 Barcelona Zugang zu Beweismitteln, die sich in der Verfügungsgewalt der Hersteller befanden, um die
künstliche Preiserhöhung infolge dieser Zuwiderhandlungen ermitteln zu können, insbesondere durch einen Vergleich der empfohlenen Preise vor, während und nach dem Zeitraum des Kartells.

Die Lkw-Hersteller machten geltend, dass diese Offenlegung von Beweismitteln über das einfache Auffinden und Auswählen bereits vorhandener Dokumente oder die einfache Bereitstellung der betroffenen Daten hinausgehe. Ihrer Ansicht nach gehe es darum, die Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in der Verfügungsgewalt der Partei befänden, gegen die sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richte, in einem leeren Dokument in digitaler oder sonstiger Form zu erfassen, was für sie eine übermäßige Belastung mit sich bringe und gegen den
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

Fragen des Gerichts

Vor diesem Hintergrund möchte das Handelsgericht Nr. 7 Barcelona vom Gerichtshof wissen, ob sich die
Offenlegung von relevanten Beweismitteln, die sich in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befinden, gemäß der Richtlinie 2014/104 ausschließlich auf Dokumente bezieht, die sich in deren Verfügungsgewalt befinden und bereits existieren, oder auch auf solche, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert.

Entscheidung des EUGH

Mit seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass sich die Offenlegung von „relevanten Beweismitteln“ auch auf solche bezieht, die derjenige, gegen den sich der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln richtet, neu erstellen muss, indem er Informationen, Kenntnisse oder Daten, die sich in seiner Verfügungsgewalt befinden, zusammenstellt oder klassifiziert, vorbehaltlich der Wahrung der Verpflichtung der befassten nationalen Gerichte, dass die von ihnen angeordnete Offenlegung von Beweismitteln relevant, verhältnismäßig und erforderlich
ist, wobei sie die berechtigten Interessen und Grundrechte des Antragsgegners berücksichtigen.

Der Gerichtshof nimmt eine Auslegung der fraglichen Norm vor. Zunächst betrifft der Begriff „Beweismittel“ im Sinne der Richtlinie „alle vor dem befassten nationalen Gericht zulässigen Arten von Beweismitteln, insbesondere Urkunden und alle sonstigen Gegenstände, die Informationen enthalten, unabhängig von dem Medium, auf dem die Informationen gespeichert sind“. Daraus folgt, dass es sich bei den betreffenden Beweismitteln nicht notwendigerweise um bereits vorhandene „Dokumente“ handelt.

Sodann beschränkt sich der Unionsgesetzgeber durch die Bezugnahme auf Beweismittel, die sich „in der… Verfügungsgewalt“ des Beklagten oder eines Dritten befinden, auf eine faktische Feststellung, nämlich die der Informationsasymmetrie zwischen dem Beklagten oder Dritten auf der einen und dem Kläger auf der anderen Seite, von dem er angesichts der wenigen Angaben, über die der Kläger bei der Erhebung einer Schadenersatzklage im Allgemeinen verfügt, nur mit zumutbarem Aufwand zugängliche Beweismittel verlangt.

Der Unionsgesetzgeber ist beim Erlass der Richtlinie 2014/104 von der Feststellung ausgegangen, dass die öffentliche Bekämpfung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen nicht ausreiche, um die vollständige Wahrung des Wettbewerbsrechts zu gewährleisten, und dass es wichtig sei, die Möglichkeit einer privaten Mitwirkung zur Erreichung dieses Ziels zu erleichtern.

Der Gerichtshof stellt klar, dass es daher notwendig war, Instrumente einzusetzen, die geeignet sind, die Informationsasymmetrie zwischen den Parteien zu beheben, da der Rechtsverletzer definitionsgemäß weiß, was ihm vorgeworfen wurde, und er die Beweismittel kennt, die als Nachweis seiner Beteiligung an einer wettbewerbswidrigen Verhaltensweise gedient haben können, während das Opfer des durch diese Verhaltensweise verursachten Schadens darüber nicht verfügt.
Insoweit entspräche die Übermittlung einer – möglicherweise sehr großen – Zahl vorhandener, nicht bearbeiteter Dokumente an den Kläger dessen Antrag nur unzureichend.

Darüber hinaus würde ein Ausschluss der Möglichkeit, die Offenlegung von neuen Dokumenten zu verlangen, die private Durchsetzung der Wettbewerbsvorschriften der Union erschweren, was dem oben angeführten Ziel der Richtlinie 2014/104 zuwiderlaufen würde.

Schließlich fügt der Gerichtshof hinzu, dass der Unionsgesetzgeber einen Mechanismus der Abwägung der widerstreitenden Interessen unter der strengen Kontrolle der befassten nationalen Gerichte eingeführt hat. Es ist
Sache dieser Gerichte zu beurteilen, ob der Antrag auf Offenlegung von Beweismitteln, die auf der Grundlage bereits vorhandener, in der Verfügungsgewalt des Beklagten oder eines Dritten befindlicher einzelner Beweismittel neu zu erstellen sind, z. B. angesichts seiner ausschweifenden oder zu allgemeinen Art,
den Beklagten oder den betroffenen Dritten unverhältnismäßig belasten kann, sei es durch die Kosten oder die Arbeitsbelastung, die dieser Antrag verursachen würde. (Quelle: Pressemitteilung des Gerichts)

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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