Im anhaltenden Bilanzskandal um Wirecard hat die Staatsanwaltschaft München I zwei weitere ehemalige Vorstandsmitglieder angeklagt: Einen früheren Finanzvorstand und eine ehemals für die Produktentwicklung zuständige Person. Beide sehen sich schweren Untreuevorwürfen gegenüber und sollen Kredite sowie Zahlungen an insolvente und dubiose Firmen genehmigt haben, ohne ausreichende Sicherheiten zu verlangen oder den Aufsichtsrat zu informieren.
Weitere Anklagen im Fall Wirecard
Die neuen Anklagen sind Teil einer umfassenden Untersuchung, die den Zusammenbruch des einstigen DAX-Konzerns aufklären soll. Im Fokus steht dabei die mutmaßliche Veruntreuung von mehreren hundert Millionen Euro, die durch fragwürdige Transaktionen an Firmen in Asien geflossen sein sollen. Besonders brisant sind die Vorwürfe, dass diese Geschäfte ohne die gebotene Sorgfalt und Prüfung genehmigt wurden.
Untreue durch das Management
Untreue im Kontext der Tätigkeiten eines Vorstands bzw. der Geschäftsleitung bedeutet dabei nicht, dass sich jemand unerlaubt Vermögenswerte in die eigene Tasche gewirtschaftet hat! Mit gefestigter Rechtsprechung liegt eine Untreue durch Vorstände bereits dann vor, wenn wirtschaftlich nicht mehr vertretbare Entscheidungen getroffen wurden, die zu einem Vermögensschaden der Gesellschaft geführt haben.
Die „Business Judgement Rule“ im Sinne des § 93 AktG schützt dabei eigentlich Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften vor Haftung für unternehmerische Entscheidungen, wenn sie diese auf Grundlage angemessener Information und im besten Interesse der Gesellschaft getroffen haben. Konkret bedeutet das, dass Vorstandsmitglieder bei der Entscheidungsfindung sorgfältig und gewissenhaft vorgehen müssen, um von der Haftung befreit zu sein. Die Regel soll verhindern, dass Vorstände aus Angst vor persönlichen Haftungsrisiken risikoscheue Entscheidungen treffen und somit unternehmerische Risiken angemessen eingehen können – andersherum eröffnet sie gerade die juristische Prüfung unternehmerischer Entscheidungen.
Schlechte Entscheidungen können also zu Strafverfahren führen – in denen Richter unternehmerische Handlungen bewerten sollen, obwohl diese im Zweifelsfall den wirtschaftlichen Alltag nur von außen kennen. Die häufigsten Mythen rund um die Strafverteidigung von Vorständen stelle ich hier auf LinkedIn dar.
Erhobene Vorwürfe gegen die Ex-Wirecard-Vorstände
Konkret wird den beiden Ex-Vorständen wohl vorgeworfen, im Dezember 2019 einer Briefkastenfirma in Singapur 40 Millionen Euro als „Security Deposit“ überwiesen zu haben. Diese Firma, angeblich im Netzwerk des britischen Geschäftsmanns Henry O’Sullivan und des flüchtigen Ex-Wirecard-Managers Jan Marsalek, konnte die Gelder nicht zurückzahlen. Die Staatsanwaltschaft kritisiert, dass weder Unternehmenskennzahlen noch schriftliche Unterlagen zur Prüfung der Bonität vorlagen, bevor die Entscheidung getroffen wurde.
Ein weiterer Vorwurf betrifft die Gewährung von Krediten an die Firma OCAP Management, ebenfalls in Singapur. Trotz ausbleibender Rückzahlungen und fehlender Sicherheiten genehmigten die beiden laut Anklage weitere Darlehen in Höhe von insgesamt 100 Millionen Euro. Auch hier wurde der Aufsichtsrat nicht einbezogen, obwohl die finanzielle Lage von OCAP mehr als fraglich war.
Man muss in Deutschland nicht vorsätzlich „böse“ handeln, um in das Visier der Justiz zu geraten – das gilt ganz besonders im Wirtschaftsstrafrecht. Paradoxerweise ist es dann gerade die Verteidigung gerichtet auf die Tatsachenebene, die es faktisch noch schlimmer macht – in öffentlicher Wahrnehmung und im Gerichtssaal. Gut beratene Vorstände berücksichtigen das.
Strafverteidigung von Vorständen in zwielichtigem Umfeld
Wo setzt Strafverteidigung von Vorständen bei schlechten Entscheidungen an?
Es ist ein klassischer Verteidigungsfehler, sich vorschnell auf die tatsächliche Ebene zu versteifen: „Ich habe doch nichts gemacht“ wird da schnell gesagt. Genau hier liegt aber das Problem, denn Strafverteidigung ist nicht allein das Ringen um Wahrheit, sondern vor allem der Kampf um Deutungen. So sind in einem Strafprozess Beweise niemals nur Tatsachen, sondern vor allem Kommunikation, die sich nicht in der gewünschten Information an sich erschöpft.
Wer diese Kommunikation in einem Gerichtssaal unterschätzt und allein mit veralteten Kommunikationsstrategien (wie Eskalation) arbeitet, um nackte Informationen zu transportieren – der wird nicht überzeugen. Dabei ist die Überzeugung am Ende das Einzige, was schon mit der Prozessordnung (§261 StPO) den Unterschied zwischen Urteil und Freispruch ausmacht. Speziell im Wirtschaftsstrafrecht liegt moderne Strafverteidigung darin, die heutigen Erkenntnisse zur Entscheidungsfindung zu transportieren.
Daniel Kahneman unterscheidet in seinem Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ zwei Systeme des Denkens:
- System 1: Schnell, intuitiv und automatisch. Es handelt impulsiv und basiert auf Erfahrungen und Heuristiken.
- System 2: Langsam, bewusst und analytisch. Es erfordert Anstrengung und wird bei komplexen Entscheidungen eingesetzt.
Der Rückschaufehler (Hindsight Bias) beschreibt die Tendenz, vergangene Ereignisse im Nachhinein als vorhersehbarer zu bewerten, als sie tatsächlich waren. Nach einem Ereignis glauben wir oft, dass wir es hätten vorhersagen können, was unser Erinnerungsvermögen und unsere Entscheidungsfindung verzerrt.
Gerade der Rückschaufehler ist in Wirtschaftsstrafverfahren ein ständiges und von Gerichten nicht selbst wahrgenommenes Problem: Man neigt etwa aufgrund eines erheblichen Schadens dazu, zu unterstellen, dass schon aufgrund des Schadensbildes eine Vorhersehbarkeit bestand. Je größer der Schaden, umso eher wird dann fehlerhaft ein Vorsatz angenommen (Mansdörfer, Vorsatz und Entscheidung, S.33). Einem solchen psychologischen Problem ist nicht mit nackten Informationen, sondern nur mit Kommunikationspsychologie beizukommen – gute Strafverteidigung berücksichtigt das!
Die neuen Anklagen machen deutlich, dass die Justiz weiterhin proaktiv entschlossen ist, die Verantwortlichen des Wirecard-Skandals zur Rechenschaft zu ziehen. Schon seit Ende 2022 läuft der Prozess gegen den ehemaligen CEO M.B., der sich wegen bandenmäßigen Betrugs, Untreue und Marktmanipulation verantworten muss. Nun müssen auch diese beiden Ex-WIrecard-Vorstände mit einer gerichtlichen Aufarbeitung ihrer Rolle im Skandal rechnen.
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