In Deutschland ist eine leise, aber eindringliche Transformation im Gange – eine, die sich nicht in politischen Schlagzeilen oder öffentlichen Debatten vollzieht, sondern in Toiletten von Sternerestaurants, in anonymen Telegram-Chats, in privaten Wohnzimmern und auf der Straße: Kokain, einst Symbol der exzessiven 80er-Jahre, hat sich zu einer allgegenwärtigen Realität entwickelt – gesellschaftlich enttabuisiert, preislich erschwinglich und juristisch hochproblematisch.
Was bedeutet diese Entwicklung, zuletzt ausführlich vom Handelsblatt herausgearbeitet, für ein Land, das seine Drogenpolitik gerade erst mit Blick auf Cannabis reformiert? Und wie gefährlich ist der „alltägliche“ Koks-Kick wirklich?
Eine Epidemie in Zahlen
Die nüchternen Daten sprechen eine deutliche Sprache: Im Jahr 2023 wurden in Deutschland 43.070 Kilogramm Kokain sichergestellt – doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Dabei handelt es sich nur um die entdeckte Menge. Die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Die europäische Drogenagentur (EUDA) schätzt, dass 2,5 Millionen junge Erwachsene in der EU im vergangenen Jahr Kokain konsumiert haben. In deutschen Großstädten lässt sich der steigende Konsum auch an den Rückständen im Abwasser ablesen. In Dortmund etwa wurde ein deutlicher Anstieg des Wirkstoffmetaboliten Benzoylecgonin gemessen – ein untrüglicher Indikator für den Konsum in der Bevölkerung.
Dieser Boom ist nicht allein durch veränderte Nachfrage zu erklären. Die Preise für Kokain sind in den letzten Jahren drastisch gefallen – von ehemals über 100 US-Dollar auf aktuell etwa 44 US-Dollar pro Gramm. Und mit der Preisreduktion geht eine enorme Ausweitung der Verfügbarkeit einher. Laut Bundesdrogenbeauftragtem Blienert war es „noch nie so leicht“, an Kokain zu gelangen – ganz gleich, ob auf dem Land oder in der Stadt. Dienste wie das „Koks-Taxi“, das per Chat-Nachricht bestellt werden kann, sind längst kein Großstadtphänomen mehr.
Ein Blick auf die Konsumenten
Was einst der Kulturszene und Führungsetagen vorbehalten schien, hat heute das Gesicht des Durchschnittsbürgers angenommen. Konsumenten sind Manager, Studentinnen, Bauarbeiter, Rentnerinnen. Viele berichten von einem Konsumverhalten, das sie selbst kaum als problematisch einstufen: „nur an Feiertagen“, „für die Kreativität“, „zur Leistungssteigerung“. Sozialarbeiterinnen wie Denise Aßhoff berichten jedoch von einem klaren Trend: Konsum wird zunehmend normalisiert – mit dem Risiko der psychischen Abhängigkeit, die schleichend entsteht.
Besonders perfide: Kokain suggeriert Produktivität. Es macht wach, fokussiert – zumindest kurzfristig. Langfristig aber drohen ernsthafte gesundheitliche Schäden: Herzrhythmusstörungen, Schlaganfälle, Psychosen. Und je häufiger der Griff zur Substanz erfolgt, desto schwerer wird der Ausstieg. Die meisten Konsumenten unterschätzen dieses Risiko. Viele bemerken die psychische Abhängigkeit erst, wenn sie längst etabliert ist – oft kaschiert durch berufliche Funktionalität und soziale Eingebundenheit.
Kokain in einer juristischen Einordnung
Aus strafrechtlicher Perspektive ist Kokain ein Betäubungsmittel der Anlage III zum BtMG – also verkehrs- und verschreibungsfähig, aber nur unter engen medizinischen Voraussetzungen. Besitz, Handel, Abgabe, Erwerb und Herstellung ohne entsprechende Erlaubnis sind gem. §§ 29 ff. BtMG strafbar. Schon der Besitz kleiner Mengen kann strafrechtlich relevant sein, wird jedoch in der Praxis bei Eigenverbrauch häufig eingestellt (§ 29 Abs. 5 BtMG).
Besonders gravierend wird die Lage, wenn die Grenze zur „nicht geringen Menge“ überschritten wird. Diese liegt bei Kokain bei 5 g Kokainhydrochlorid – also reiner Wirkstoff, nicht Rohmasse. Ab dieser Schwelle droht eine Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr (§ 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG). Der Gesetzgeber wertet den Umgang mit dieser Menge als Verbrechen, auch bei bloßem Besitz. Für den gewerbsmäßigen oder bewaffneten Handel kommen sogar Strafandrohungen von fünf Jahren und mehr ins Spiel (§§ 30, 30a BtMG).
Ein besonderes Augenmerk liegt im Strafrecht auf der Einfuhr großer Mengen, dem bandenmäßigen Handel sowie der Einbeziehung Minderjähriger. Die Strafverfolgungsbehörden reagieren daher mit enormem Aufwand – auch grenzüberschreitend. Dennoch lässt sich feststellen: Die repressive Strategie allein scheint der Ausbreitung des Kokainmarktes wenig entgegenzusetzen.
Das BtMG bietet einen klaren juristischen Rahmen – aber es ist die Gesellschaft selbst, die sich fragen muss: Wie wollen wir mit dieser „Volksdroge der Gegenwart“ umgehen?
Die Schattenseite der Globalisierung
Die Wege des Kokains führen von Südamerika über internationale Häfen wie Antwerpen oder Rotterdam nach Europa – und von dort über ein weit verzweigtes Netz in deutsche Städte. Die Drogen werden dabei zunehmend professionell versteckt und chemisch eingebettet – etwa in Plastik oder Zucker – um sie erst in europäischen Laboren zu extrahieren. Die Zahl der aufgedeckten Kokainlabore in Europa wächst, ebenso wie der gewaltsame Wettbewerb unter den Kartellen. Kokain ist nicht nur eine Gesundheitsfrage, sondern auch ein Faktor organisierter Kriminalität und innerstädtischer Gewalt.
Wie geht die Gesellschaft mit dem „neuen Normal“ um?
Ein irritierendes Phänomen zeigt sich im Diskurs: Während Cannabis intensiv und emotional diskutiert wird, bleibt Kokain oft ein Tabu. Dabei ist die Droge längst tief in der Alltagsrealität angekommen. Der Bundesdrogenbeauftragte spricht offen von einer „Normalisierung“ – warnt aber zugleich vor einer gefährlichen Bagatellisierung. Gerade jüngere Konsumenten unterschätzen die Risiken, suchen keine Hilfe und rutschen unbemerkt in problematische Muster.
Therapieangebote existieren zwar – etwa stationäre Aufenthalte in Luxuskliniken wie „The Balance“ auf Mallorca – doch der Zugang zu effektiver Hilfe ist für viele erschwert. Sowas sind Luxusangebote, die es in Blätter wie das Handelsblatt schaffen – mit der Realität meiner Mandanten aber hat das nichts zu tun. So engagiert ich die Mitarbeiter der Suchtberatung erlebe, so schwierig ist der Zugang zu einer dauerhaften Lösung. Gruppen wie Anonymen Narkotiker sind weitestgehend unbekannt und nicht in allen Regionen verfügbar; es läuft dann oft auf eine so genannte kurzfristige Entgiftung hinaus, damit man danach wieder – ohne therapeutische Anbindung – auf der Strasse steht und den Weg schnell zurückfindet zum Koks.
Und: Bis heute gibt es wohl keine pharmakologisch belegte medikamentöse Therapie gegen Kokainabhängigkeit. Die psychosoziale Begleitung bleibt daher das zentrale Mittel der Wahl – allerdings mit begrenzten Ressourcen und geringer öffentlicher Sichtbarkeit.
Unsere Gesellschaft ist bei Drogen ebenso durchzogen von Heuchelei wie beim Thema Sex: Cannabis ist ein Daueraufreger und der Verkauf von harmlosem CBD wird mit aller Härte verfolgt – während wir eine zunehmende, gesellschaftsübergreifende Problematik mit Amphetaminen und Kokain erleben. Wer allein von der Volksdroge Cannabis spricht, hat keine Ahnung – oder verschließt bewusst die Augen.
Zwischen Strafrecht und Prävention
Deutschland steht an einem kritischen Punkt. Der Anstieg des Kokainkonsums, seine gesellschaftliche Akzeptanz und die Parallelität zur organisierten Kriminalität fordern neue Antworten. Repression allein wird nicht ausreichen – das zeigt der europäische Trend. Notwendig ist ein offenerer Diskurs, frühzeitige Prävention, zielgerichtete Aufklärung und eine Entstigmatisierung professioneller Hilfsangebote.
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