Das Oberlandesgericht Nürnberg hat in einem aktuellen Beschluss vom 18. März 2025 (Aktenzeichen: 15 NBs 403 Js 64945/22) wichtige Fragen zur notwendigen Verteidigung bei drohender Gesamtfreiheitsstrafe entschieden. Der Fall betraf einen Angeklagten, dem in mehreren Verfahren Strafen drohten, die gesamtstrafenfähig waren und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreichte, die das Merkmal der „Schwere der Tat” im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründete. Der Beschluss des Oberlandesgerichts gibt Aufschluss über die rechtlichen Grundlagen und die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in solchen Fällen.
Sachverhalt
Die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth führt gegen den Angeklagten ein Strafverfahren wegen Nötigung. Ihm wird vorgeworfen, als sogenannter Klimakleber am 16. August 2022 in Nürnberg Verkehrsteilnehmer durch eine Straßenblockade an deren Weiterkommen gehindert zu haben. Mit Urteil des Amtsgerichts Nürnberg vom 1. März 2024 wurde er wegen Nötigung in 13 tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe von 75 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt. Die Staatsanwaltschaft, die die Verhängung einer Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen beantragt hatte, legte dagegen Berufung ein. Auch der Angeklagte, der in erster Instanz einen Freispruch beantragt hatte, legte Rechtsmittel ein.
Mit Schreiben seines Verteidigers vom 19. Februar 2025 beantragte der Angeklagte, ihm Rechtsanwalt D. W. gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger zu bestellen. Das Landgericht Nürnberg-Fürth bestellte mit Beschluss vom 18. März 2025 Rechtsanwalt D. W. gemäß § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger des Angeklagten. Gegen diesen Beschluss hat die Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth sofortige Beschwerde eingelegt, die das Oberlandesgericht Nürnberg als unbegründet verworfen hat.
Juristische Analyse
Das Oberlandesgericht Nürnberg hat in seinem Beschluss die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei drohender Gesamtfreiheitsstrafe ausführlich dargelegt.
Notwendige Verteidigung
Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung rechtfertigt nach gefestigter Rechtsprechung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers in der Regel, wenn dem Angeklagten die Verhängung einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt. Neben der dem Angeklagten in diesem Verfahren drohenden Strafe sind wegen der bei § 140 Abs. 2 StPO stets erforderlichen Gesamtbewertung auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, die er infolge der drohenden Verurteilung zu gewärtigen hat.
Die Grenze der Straferwartung um ein Jahr Freiheitsstrafe ist deshalb auch dann zu beachten, wenn ihr Erreichen oder Überschreiten erst infolge einer zu erwartenden Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt. Voraussetzung dieser Berücksichtigungspflicht ist dabei, dass das andere Verfahren dem über die Pflichtverteidigerbestellung entscheidenden Gericht bekannt ist. Eine Aufklärungspflicht besteht insoweit nicht.
Der Beschluss zeigt, dass die Gerichte bei der Entscheidung über die Beiordnung eines Pflichtverteidigers eine sorgfältige Abwägung aller relevanten Umstände vornehmen müssen. Dabei kommt es nicht nur auf die Schwere der drohenden Strafe an, sondern auch auf die Gesamtumstände des Einzelfalls, einschließlich der sozialen Verhältnisse des Angeklagten und seiner Bereitschaft, sich wirksam zu verteidigen.
Gesamtstrafenbildung
Drohen dem Angeklagten in mehreren Verfahren Strafen, die gesamtstrafenfähig sind und deren Summe voraussichtlich eine Höhe erreicht, welche das Merkmal der „Schwere der Tat” im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO begründet, ist die Verteidigung in jedem Verfahren notwendig. Anderenfalls hinge es von bloßen Zufälligkeiten, nämlich der Frage, ob die Verfahren verbunden werden oder nicht, ab, ob dem Angeklagten ein Verteidiger beizuordnen ist.
Der Senat teilt die in Rechtsprechung und Literatur überwiegend vertretene Auffassung, dass der Gerichtsvorsitzende bei der Beurteilung der Schwere der Tat bzw. der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO weitere gegen den Angeklagten anhängige Verfahren, hinsichtlich derer eine Gesamtstrafenbildung in Betracht kommt, zu berücksichtigen hat. Damit sind aber die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gegeben.
Rechtsstaatsprinzip
Die Vorschriften der Strafprozessordnung über die Bestellung eines Verteidigers konkretisieren das Rechtsstaatsprinzip in seiner Ausgestaltung als Gebot fairer Verhandlungsführung. Der Beschuldigte muss die Möglichkeit haben, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Dazu gehört auch, dass ein Beschuldigter, der die Kosten eines gewählten Verteidigers nicht aufzubringen vermag, in schwerwiegenden Fällen von Amts wegen und auf Staatskosten einen rechtskundigen Beistand erhält.
Mit dem Institut der notwendigen Verteidigung und mit der Bestellung eines Verteidigers ohne Rücksicht auf die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten sichert der Gesetzgeber das Interesse, das der Rechtsstaat an einem prozessordnungsgemäßen Strafverfahren und zu diesem Zweck nicht zuletzt an einer wirksamen Verteidigung des Beschuldigten hat. Ebenso wenig, wie das Institut der notwendigen Verteidigung der finanziellen Versorgung von Rechtsanwälten dient, darf sich das Strafgericht bei der Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozessordnung in erster Linie von fiskalischen Erwägungen leiten lassen.
Wie lange dauert die Pflichtverteidigung
Im Kern ist es ganz einfach: Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet mit der Einstellung oder dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens, das bedeutet, das regelmäßig die nächsten Instanzen Bestandteil der Pflichtverteidigung sind. Eine Ausnahme sind die Beiordnung für das Strafbefehlsverfahren oder im beschleunigten Verfahren. Mehr zur Dauer der Beiordnung hier bei uns.
Pflichtverteidiger: Gut oder Schlecht?
Ist ein Pflichtverteidiger gut oder schlecht? Das lässt sich nicht pauschal beantworten, es kommt darauf an, ob Sie sich einen guten ausgewählt haben - oder ob Sie so dumm waren, einfach gar nichts zu machen und abzuwarten. Mehr dazu hier.
Was ist ein Pflichtverteidiger?
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Arbeitet der Pflichtverteidiger für das Gericht?
Kurze Antwort: Nein. Es handelt sich um einen "normalen" Strafverteidiger, der vom Gericht aus einer Liste herausgepickt wurde, weil Sie sich nicht beim Gericht gemeldet haben!
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Wann kann man einen Pflichtverteidiger beantragen?
Sie können jederzeit einen Pflichtverteidiger beantragen - ob Sie einen erhalten ist eine andere Sache. Das Gesetz sieht Fälle so genannter notwendiger Verteidigung vor, in einem solchen Fall ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Im Ermittlungsverfahren dabei ausdrücklich nur auf Antrag, Sie müssen also tätig werden und erhalten im Ermittlungsverfahren nicht automatisch einen Pflichtverteidiger. Ein Strafverteidiger hilft Ihnen und dabei kann der Verteidiger Ihrer Wahl auch Ihr Pflichtverteidiger werden. Es macht also erst Recht Sinn, sich in dem Fall dass man sich keinen Anwalt leisten kann, erst Recht frühzeitig um einen Verteidiger zu bemühen und mit diesem das Gespräch zu suchen hinsichtlich einer Pflichtverteidiger-Beiordnung.
Fazit
Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg gibt wichtige Aufschlüsse über die rechtlichen Grundlagen und Voraussetzungen für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers bei drohender Gesamtfreiheitsstrafe. Das Gericht hat betont, dass die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigt, wenn dem Angeklagten die Verhängung einer Freiheitsstrafe droht, die mindestens im Bereich von einem Jahr liegt.
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