Keine Steuerhinterziehung von Lohnsteuer, wenn elektronische Lohnsteuerbescheinigungen dem Finanzamt vollständig vorliegen

Es ist nicht selten, dass in Steuerstrafverfahren Mandanten darauf hinweisen, dass dem Finanzamt doch ohnehin alle Daten bekannt seien – jedenfalls für Einkommen allein aus nicht-selbstständiger Tätigkeit scheint sich dies nun durchzusetzen, sofern die elektronischen Lohnsteuerbescheinigungen vollständig beim Finanzamt vorlagen:

Grundsätzlich gilt, dass die Beträge hinterzogen sind, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 370 AO erfüllt ist; leichtfertig verkürzt die Beträge, für die der objektive und subjektive Tatbestand des § 378 AO erfüllt ist. § 378 AO setzt dabei hinsichtlich der Tathandlung die Verwirklichung einer Tatbestandsvariante des § 370 AO voraus.

Der objektive Tatbestand der Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt dabei voraus, dass der Steuerpflichtige die Finanzbehörden pflichtwidrig über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis lässt und dadurch Steuern verkürzt oder für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt.

Mit dem Finanzgericht Münster, 4 K 135/19 E, scheidet eine vollendete durch Unterlassen (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO) in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den für die Steuerfestsetzung wesentlichen tatsächlichen Umständen bereits Kenntnis haben:

Der Wortlaut des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO setzt ein In-Unkenntnis-lassen der Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen voraus. Nach dem Verständnis des Senats kann ein Steuerpflichtiger eine Finanzbehörde nicht „in Unkenntnis lassen“, wenn sie tatsächlich über alle wesentlichen für die Steuerfestsetzung maßgeblichen Umstände informiert ist (so bereits Oberlandesgericht [OLG] Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79, rechtskräftig [rkr.]; siehe auch FG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2021 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331, rkr. und OLG Köln, Urteil vom 31.01.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr.; in diese Richtung auch BFH-Urteil vom 04.12.2012 VIII R 50/10, BFHE 239, 495 Rz. 31: „Hat nämlich die Finanzverwaltung – auf welchem Weg auch immer – die erforderlichen Informationen erhalten […], so scheidet eine Steuerhinterziehung durch Unterlassen aus […]“).37

Der Sinn und Zweck des § 370 AO steht dieser Wortlautauslegung nicht entgegen, sondern stützt die Auffassung des Senats. Das von § 370 Abs. 1 AO geschützte Rechtsgut ist das öffentliche Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Aufkommen der von dieser Norm erfassten Steuern ( – Beschluss vom 29.04.2010 2 BvR 871/04, 2 BvR 414/08, BFH/NV 2010, 1595; [BGH] – Urteil vom 02.12.2008 1 StR 416/08, BGHSt 53, 71). Eine Gefährdung für dieses Rechtsgut durch die Steuerpflichtigen besteht nicht, wenn die Finanzbehörden tatsächlich über die für die Besteuerung wesentlichen Umstände informiert sind (so bereits OLG Oldenburg, Beschluss vom 10.07.2018 1 Ss 51/18, wistra 2019, 79, rkr.; siehe auch FG Düsseldorf, Urteil vom 26.05.2021 5 K 143/20 U, wistra 2021, 331, rkr. und OLG Köln, Urteil vom 31.01.2017 III-1 RVs 253/16, wistra 2017, 363, rkr.).

Finanzgericht Münster, 4 K 135/19 E

Diese Entscheidung fügt sich durchaus in die obergerichtliche Rechtsprechung. Mit dieser scheidet eine vollendete Steuerhinterziehung durch Unterlassen in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt (Abschluss der wesentlichen Veranlagungsarbeiten [zu 95 %]) von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen bereits Kenntnis haben. Mit dem OLG Köln ( III-1 RVs 253/16) fehlt es an einer Unkenntnis in den Fällen der Pflichtveranlagung (§ 46 Abs. 2 Nr. 3a EStG), bei denen beide Ehegatten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beziehen und einer von ihnen nach der Steuerklasse V besteuert wird, regelmäßig an einer Unkenntnis der Finanzbehörde. Diese erhält durch die dem Arbeitgeber obliegende Verpflichtung zur Übermittlung der elektronischen Lohnsteuerbescheinigung Kenntnis von den steuererheblichen Tatsachen und die Ehegatten werden und dürfen regelmäßig davon ausgehen, dass dies auch tatsächlich geschieht (so wohl auch OLG Oldenburg, 1 Ss 51/18).

Auch das OLG Brandenburg hat sich dem nun angeschlossen:

Der Senat teilt die von der Strafkammer vertretene Auffassung, dass angesichts des Wortlauts der gesetzlichen Regelung („in Unkenntnis lässt“) eine Strafbarkeit wegen vollendeter Steuerhinterziehung gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO ausscheiden muss, wenn die zuständigen Finanzbehörden zum maßgeblichen Veranlagungszeitpunkt von den wesentlichen steuerlich relevanten Umständen bereits Kenntnis haben (OLG Oldenburg, Urt. v. 16. November 1998 – Ss 319/98, BeckRS 1998, 16504 und Beschl. 10. Juli 2018, 1 Ss 51/18, BeckRS 2018, 21189; OLG Köln, Urt. v. 31.Januar 2017 – 1 RVs 253/16, BeckRS 2017, 107137; ebenso BayOblG, Beschl. v. 3. November 1989 – RReg 4 St 135/89, zit. nach Juris Rn. 26).

Entgegen der Annahme der Staatsanwaltschaft und Generalstaatsanwaltschaft widerspricht diese zutreffende Rechtsauffassung auch nicht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der es „im Gegensatz zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO“ bei dem – hier nicht einschlägigen – Tatbestand von § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO auf eine Kenntnis bzw. Unkenntnis der Finanzbehörden nicht ankommt (BGH, Beschl. v. 14. Dezember 2010 – 1 StR 275/10, Rn. 27; Beschl. v. 20. November 2012 – 1 StR 391/21, jeweils zit. nach Juris).

OLG Brandenburg, 2 Ws 202/21

Das schafft Spielraum im Steuerstrafrecht – und entspricht auch der Wertung der meisten Bürger. Wenn ohnehin sämtliche Daten mitgeteilt sind und man sonst kein Einkommen hat, könnte der Staat problemlos auf Basis der schon bekannten Daten einen Steuerbescheid erlassen. Die Gerichte sehen das zunehmend genauso.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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