In Verfahren gegen Anbieter von Online-Glücksspielen ist es nicht unüblich, dass sich prozessuale Besonderheiten mit unionsrechtlichen Fragen überschneiden. Der Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 27. März 2025 (Az. I ZB 68/24) verdeutlicht exemplarisch, inwieweit nationale prozessuale Vorschriften auch gegenüber grenzüberschreitend tätigen Unternehmern Bestand haben – selbst wenn unionsrechtliche Aspekte wie die Dienstleistungsfreiheit berührt sind. Zentral war die Frage, ob ein nationales Gericht verpflichtet ist, vor Erlass eines zweiten Versäumnisurteils ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) einzuleiten oder das Verfahren auszusetzen.
Sachverhalt
Ein Spieler verlangte vor dem Landgericht Baden-Baden von einer in Malta ansässigen Glücksspielanbieterin die Rückzahlung verlorener Online-Einsätze i.H.v. 11.019 €. Die Beklagte beantragte die Aussetzung des Verfahrens wegen des beim EuGH anhängigen Verfahrens C-440/23 sowie hilfsweise eine Vorlage an den EuGH. Zum Termin erschien sie nicht, woraufhin das Gericht ein Versäumnisurteil erließ. Auch zum Einspruchstermin blieb sie aus; das Gericht erließ daraufhin ein zweites Versäumnisurteil. Die Beklagte legte Berufung ein, das OLG Karlsruhe verwarf diese mangels Statthaftigkeit. Ihre Rechtsbeschwerde zum BGH blieb ohne Erfolg.
Rechtliche Würdigung
Prüfungsmaßstab für das zweite Versäumnisurteil
Der BGH bestätigt zunächst seine ständige Rechtsprechung zur eingeschränkten Prüfungsdichte beim zweiten Versäumnisurteil nach § 345, § 514 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Danach kann sich eine Berufung gegen ein solches Urteil nur darauf stützen, dass keine schuldhafte Säumnis vorlag. Nicht (mehr) überprüft werden darf insbesondere die materielle Schlüssigkeit der Klage – und damit auch etwaige unionsrechtliche Einwendungen wie ein Verstoß gegen Art. 56 AEUV.
Keine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)
Ein zentraler Einwand der Beklagten bestand darin, dass das Landgericht ohne vorherige Vorlage an den EuGH entschieden habe. Der BGH sieht hierin keinen Verfassungsverstoß: Ein Entzug des gesetzlichen Richters liege nur dann vor, wenn die Auslegung von Zuständigkeitsnormen willkürlich oder offensichtlich unhaltbar sei. Das war hier – unter Berufung auf gefestigte Rechtsprechung – nicht der Fall.
Vereinbarkeit mit Unionsrecht
Der BGH setzt sich ausführlich mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität auseinander:
- Äquivalenz: Die nationalen Verfahrensvorschriften gelten unterschiedslos für inländische und grenzüberschreitende Sachverhalte. Ein Verstoß war nicht ersichtlich.
- Effektivität: Die Sanktion der endgültigen Rechtskraft nach wiederholter schuldhafter Säumnis sei unionsrechtlich zulässig. Das Unionsrecht verlange nicht, dass ein nationales Gericht eine fehlerhafte Entscheidung selbst dann revidiere, wenn dies unionsrechtlich geboten sein könnte, sofern die Entscheidung rechtskräftig geworden ist.
Der EuGH messe der Rechtssicherheit und der Bestandskraft von Entscheidungen hohen Stellenwert bei (u.a. „Kapferer“, „Asturcom“, „Profi Credit Polska“). Die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten sei nur insoweit eingeschränkt, als sie die Effektivität des Unionsrechts nicht übermäßig behindere. Das war vorliegend – auch mangels Verbrauchereigenschaft der Beklagten – nicht der Fall.
Keine Pflicht zur Vorlage nach Art. 267 AEUV
Eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV wurde ebenfalls verneint. Der BGH sah keinen entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Klärungsbedarf, da die einschlägige Rechtsprechung des EuGH eindeutig sei (acte clair). Zudem betreffe der Streit nationales Verfahrensrecht, das nicht zum Vorlagegegenstand tauge.
Der Beschluss stärkt die Verlässlichkeit prozessualer Regeln und betont die Eigenverantwortung der Parteien im Zivilprozess. Zugleich zeigt er, dass der Vorrang des Unionsrechts dort seine Grenzen findet, wo nationale Verfahrensnormen rechtssicher und gleichmäßig angewendet werden.
Schlussfolgerung
Die Entscheidung unterstreicht die Bedeutung prozessualer Sorgfalt, insbesondere im Versäumnisverfahren. Eine Partei, die wiederholt schuldhaft säumig bleibt, kann die Schlüssigkeit der Entscheidung nicht mehr nachträglich angreifen – auch nicht unter Berufung auf europarechtliche Bedenken. Der BGH stellt klar, dass weder das Grundgesetz noch das Unionsrecht eine Verpflichtung zur Aussetzung oder Vorlage an den EuGH begründen, wenn das nationale Verfahrensrecht eine eingeschränkte Prüfung vorsieht.
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