Heranziehung regionaler Teilmärkte zur räumlichen Marktabgrenzung
BGH, Beschluss vom 13.7.2004, KVR 2/03aa) Mit Recht – und auch von der Rechtsbeschwerde nicht in Frage gestellt – hat das Beschwerdegericht allerdings für die Bestimmung des räumlichen Marktes auf das Bedarfsmarktkonzept abgestellt und – bei dem hier vorliegenden Angebotsmarkt – geprüft, welche Pharmagroßhändler aus der Sicht der Apotheker, die im Versorgungsgebiet der jeweiligen Niederlassung der Sanacorp e.G. liegen, zur Deckung ihres Bedarfs in Betracht kommen, also eine Ausweichmöglichkeit gegenüber einer Belieferung durch die Betroffene bieten.
bb) Zutreffend im Ausgangspunkt ist ferner, daß das Beschwerdegericht bei seiner tatrichterlichen Würdigung die danach gebotene Marktabgrenzung des Bundeskartellamts als ungeeignet verworfen hat, weil sie den tatsächlichen Gegebenheiten auf dem Pharmagroßhandelsmarkt nicht gerecht wird. Da für die Apotheker die regelmäßige, pünktliche und mehrmals täglich stattfindende Belieferung mit den bestellten Waren des Vollsortiments wesentlich ist, hat das Beschwerdegericht im Ansatz zutreffend alle diejenigen Großhändler den jeweiligen regionalen Märkten zugeordnet, die dieser Erwartung der Apotheker entsprechen und nach vernünftigen kaufmännischen Erwägungen imstande sind, die Bestellung auszuführen. Zu diesem Kreis gehören nicht nur die Großhändler, deren Sitz in dem Gebiet der jeweiligen Niederlassung der Sanacorp e.G. liegt, wie das Bundeskartellamt für richtig hält. Dessen Auffassung, die einzelnen Niederlassungen der Sanacorp e.G. seien derart zugeschnitten, daß sie in nicht weiter zu verbessernder Weise den Lieferwünschen der Apotheken nachkommen können, hat das Beschwerdegericht ohne Rechtsfehler nicht als mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmend feststellen können: Praktisch alle Apotheken unterhalten Lieferbeziehungen zu mindestens zwei Lieferanten, nach Zahl und Umsatz wird derselbe Apotheker in nennenswertem Umfang von mehreren Niederlassungen der Sanacorp e.G. gleichzeitig beliefert. Demgemäß betrifft das von der Sanacorp e.G. aufgebaute Verbundliefersystem nicht, wie das Bundeskartellamt gemeint hat, ausschließlich sog. „Defektlieferungen“. Schließlich zeigen die vorgelegten Routenpläne, daß die Niederlassungen regelmäßig Lieferungen über Entfernungen vornehmen, die die Grenzen des Gebiets der einzelnen Niederlassung deutlich überschreiten und Strecken von bis zu 200 km um ihren Sitz umfassen.
cc) Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist ferner die Feststellung des Beschwerdegerichts, daß zwischen den verschiedenen Pharmagroßhändlern ein deutlicher Rabattwettbewerb besteht. Der Pharmagroßhandel in Deutschland ist nach den verfahrensrechtlich einwandfreien Feststellungen des Beschwerdegerichts dadurch gekennzeichnet, daß er die Verteilung identischer Produkte betrifft, für welche sowohl der Hersteller- als auch der den Kunden der Apotheke in Rechnung gestellte Preis gebunden ist. Da eine größere Abnahmemenge eines Großhändlers danach für ihn keinen Spielraum für eine Reduzierung seines Einkaufspreises gibt, die Apotheker andererseits hinsichtlich des Verkaufspreises gegenüber den Kunden gebunden sind, beschränkt sich der wirtschaftliche Gestaltungsspielraum des Pharmagroßhandels auf die Spanne zwischen diesen beiden Preisen. Von der Höhe des eigenen Aufwandes für Lagerung, Verteilung und Auslieferung auf der einen Seite und dem Rabatt auf den Endverkaufspreis, den der Großhändler dem Apotheker als Erst-, Zweit- oder Drittlieferant einräumt, hängt der eigene Erfolg der geschäftlichen Tätigkeit ab. Nach den unangegriffenen Feststellungen des Beschwerdegerichts machen allein die durch den Aufbau und die Unterhaltung der Logistik entstehenden fixen Kosten zwischen 80 und 90 % des den Pharmagroßhändlern entstehenden Aufwands aus. Die Transportkosten fallen demgegenüber – insofern anders als bei der Belieferung mit Transportbeton, die das Bundeskartellamt zum Vergleich herangezogen hat – deutlich weniger ins Gewicht, zumal die Auslieferung weitgehend nicht mit eigenen Fahrzeugen und eigenem Personal, sondern von Drittunternehmern vorgenommen wird, denen ein fester Satz je gefahrenem Kilometer gezahlt wird. Da das Bestellsystem, der Beratungsservice, die Pünktlichkeit, die Zuverlässigkeit und die Frequenz der Ausführung von Bestellungen weitgehend standardisiert sind – das Beschwerdegericht spricht in diesem Zusammenhang treffend von der „Eintrittskarte“ in den Markt -, ist der dem Apotheker angebotene Nachlaß auf seinen Verkaufspreis für jeden Pharmagroßhändler ein wesentliches Mittel, einen Kunden zu gewinnen oder an sich zu binden, zumal die Apotheker nach den Verhältnissen des deutschen Gesundheitssystems auf die Erzielung eines möglichst hohen Rabatts angewiesen sind, um auf Dauer existieren zu können.
dd) Zu Recht rügt die Rechtsbeschwerde jedoch, daß die Radiusbetrachtung, in die die Erwägungen des Beschwerdegerichts zur Marktabgrenzung münden, ungeeignet ist festzustellen, ob die Voraussetzungen für eine Untersagung nach § 36 Abs. 1 GWB bestehen. Relevant für das Untersagungsverfahren sind nicht die Verhältnisse in der Bundesrepublik insgesamt. Die Frage, ob der Zusammenschluß eine marktbeherrschende Stellung der Sanacorp e.G. begründet, stellt sich hier nur für die drei Teilmärkte Stralsund, Ulm und Tuttlingen. Gerade für diese drei Gebiete verfehlt die von dem Oberlandesgericht für richtig erachtete Bestimmung des räumlichen Marktes auf der Grundlage einer Radiusbetrachtung von 150 km um den Sitz der Niederlassung die tatsächlichen Verhältnisse. Alle drei Gebiete umfassen, wenn man die weitesten Ausdehnungen in Nord/Süd- und Ost/West-Richtung zugrunde legt, Flächen von gut 11.000 bzw. gut 7.000 km2 (Stralsund: 80 x 140 = 11.200; Ulm: 120 x 95 = 11.400; Tuttlingen: 60 x 120 = 7.200), während die von dem Beschwerdegericht herangezogene kreisförmige Abgrenzung bei einem Radius von 150 km (70.650 km2) zu einer mehr als sechsmal bzw. zehnmal so großen Fläche führt und das Oberlandesgericht sich außerdem darüber hinwegsetzt, daß das von ihm zugrunde gelegte tatsächliche Liefergebiet nicht durch eine Kreisform, sondern eher durch ein Rechteck beschrieben wird. Die danach jedenfalls für die drei Problemgebiete nach den eigenen Feststellungen des Beschwerdegerichts unhaltbare Ausdehnung der relevanten räumlichen Teilmärkte verfehlt das durch die Marktabgrenzung verfolgte Ziel, das Vorhandensein einer marktbeherrschenden Stellung zu prüfen, um so mehr, als das Oberlandesgericht bei seiner pauschalierenden Vorgehensweise nicht hinreichend berücksichtigt, daß nicht überall innerhalb des von ihm für richtig erachteten Radius von 150 km um den Sitz einer Niederlassung mit gleicher Intensität von Apotheken nachgefragte Produkte von der Beteiligten zu 1 ausgeliefert werden. Dabei drängt es sich auf, daß nicht nur die Nähe einer Apotheke zu der jeweiligen Niederlassung, sondern auch die geographischen Gegebenheiten und die jeweilige Verkehrsinfrastruktur in dem betreffenden Teilmarkt einen wesentlichen Einfluß auf die Verteilung der erzielten Umsätze ausüben.
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