Das Jugendstrafrecht ist geprägt von einem Spannungsfeld zwischen erzieherischen Maßnahmen und der gesellschaftlichen Notwendigkeit, Straftaten angemessen zu ahnden. Mit seinem Beschluss vom 6. November 2024 (Az. 2 StR 290/24) hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Anforderungen an die Begründung und Anwendung des Merkmals „schädliche Neigungen“ im Jugendstrafrecht präzisiert.
Sachverhalt
Der Angeklagte wurde vom Landgericht Erfurt unter anderem wegen schweren Raubes, gefährlicher Körperverletzung und schwerer Vergewaltigung zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt. Die Jugendkammer begründete die Verhängung der Jugendstrafe ausschließlich mit dem Vorliegen schädlicher Neigungen. Die Entscheidung stützte sich auf die Schwere und Anzahl der begangenen Taten sowie die Notwendigkeit, dem Angeklagten erzieherisch die Einhaltung gesellschaftlicher Regeln zu verdeutlichen. Der BGH hob diese Entscheidung auf und verwies den Fall zurück.
Rechtliche Bewertung der „schädlichen Neigungen“
Das Jugendgerichtsgesetz (JGG) erlaubt die Verhängung einer Jugendstrafe gemäß § 17 Abs. 2 JGG, wenn entweder schädliche Neigungen bestehen oder die Schwere der Schuld dies gebietet. Der BGH stellte klar, dass das Vorliegen schädlicher Neigungen strenge Voraussetzungen erfordert, die vom Landgericht nicht hinreichend geprüft wurden.
Definition und Nachweis schädlicher Neigungen
Schädliche Neigungen liegen vor, wenn erhebliche Persönlichkeitsmängel oder Erziehungsmängel vor der Tat bestanden, die die Gefahr weiterer Straftaten begründen. Der BGH betonte, dass diese Merkmale nicht pauschal aus der Schwere der begangenen Straftaten abgeleitet werden dürfen.
Vielmehr müsse geprüft werden, ob der Täter bereits vor den Taten durch fortgesetztes strafbares Verhalten oder andere Verhaltensauffälligkeiten auf schädliche Neigungen hingewiesen habe. Im vorliegenden Fall hatte die Staatsanwaltschaft frühere Straftaten des Angeklagten – wie Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz und Sachbeschädigung – gemäß § 45 JGG eingestellt, was auf deren Geringfügigkeit hinweist und keine ausreichende Grundlage für die Annahme schädlicher Neigungen darstellt.
Erziehungsbedarf als Leitmotiv
Der BGH kritisierte die Begründung des Landgerichts, dem Angeklagten müsse erzieherisch vermittelt werden, wie er sich in einem Rechtsstaat zu verhalten habe. Diese Argumentation reiche nicht aus, um schädliche Neigungen anzunehmen, da der Schwerpunkt einer Jugendstrafe auf der nachhaltigen Erziehung liegen müsse. Der Hinweis auf erzieherische Maßnahmen dürfe nicht mit der pauschalen Feststellung schädlicher Neigungen gleichgesetzt werden.
Aktualität der schädlichen Neigungen
Der BGH unterstrich, dass schädliche Neigungen zum Zeitpunkt der Urteilsfindung weiterhin bestehen müssen. Es sei nicht ersichtlich, dass der Alkoholkonsum oder die Erziehungsmängel des Angeklagten noch zum Zeitpunkt der Verurteilung die Gefahr weiterer Straftaten begründeten. Das Landgericht habe dies nicht ausreichend erörtert, was die Verhängung der Jugendstrafe fehlerhaft mache.
Schwere der Schuld und Abgrenzung zu schädlichen Neigungen
Ein weiterer Kritikpunkt des BGH betraf die fehlende Berücksichtigung der Schwere der Schuld. Das Landgericht hatte sich ausschließlich auf schädliche Neigungen gestützt und die Schwere der Schuld nicht geprüft, obwohl diese bei den begangenen schweren Gewaltdelikten durchaus relevant gewesen wäre. Der BGH wies darauf hin, dass bei Taten mit einem hohen Unrechtsgehalt, wie schwerer Vergewaltigung oder Raub, stets auch die Schwere der Schuld zu prüfen ist.
Fazit
Der Beschluss des BGH zeigt, wie anspruchsvoll die Begründung einer Jugendstrafe ist, wenn diese auf schädlichen Neigungen basiert. Das Gericht verdeutlichte, dass die Feststellung schädlicher Neigungen nicht pauschal auf die Schwere der Taten gestützt werden darf, sondern eine differenzierte Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung und des Erziehungsbedarfs des Täters erfordert. Ebenso betonte der BGH die Notwendigkeit, die Schwere der Schuld bei schweren Straftaten gesondert zu prüfen.
Die Entscheidung stärkt die Anforderungen an die Rechtsprechung im Jugendstrafrecht und macht deutlich, dass das Ziel des Jugendstrafrechts – die Erziehung und Resozialisierung junger Täter – eine präzise rechtliche und pädagogische Abwägung verlangt. Für die Praxis bedeutet das, dass Gerichte noch sorgfältiger prüfen müssen, ob eine Jugendstrafe gerechtfertigt ist und welche Gründe sie tragen.
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