Grenzlinien der Sterbehilfe: Der BGH zur Strafbarkeit aktiver Mitwirkung an der Selbsttötung eines psychisch Kranken

Mit Beschluss vom 29. Januar 2025 (4 StR 265/24) hat der die Verurteilung eines Arztes wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft bestätigt, der einem psychisch kranken Menschen beim Suizid assistierte. Die Entscheidung ist nicht nur von strafrechtlicher Relevanz, sondern ragt weit in ethische, medizinische und rechtspolitische Diskurse hinein. Sie bringt Klarheit in ein hochsensibles Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung, ärztlicher Verantwortung und staatlichem Lebensschutz, das durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB grundlegend neu justiert wurde.

Ausgangslage

Der Angeklagte, ein erfahrener Psychiater, begleitete freiberuflich suizidwillige Menschen. Im konkreten Fall attestierte er einem an paranoider Schizophrenie und Depression leidenden Mann – trotz erheblich dokumentierter psychopathologischer Symptome – die Freiverantwortlichkeit seines Sterbewunsches. Er bescheinigte diese diagnostische Einschätzung in einem medizinisch nicht korrekt klassifizierten Gutachten und legte dem Mann schließlich selbst eine Infusion mit tödlichem Natrium-Thiopental, die dieser aktiv betätigte. Obwohl der Suizident die Infusion selbst öffnete, erkannte der BGH hierin eine täterschaftlich zurechenbare Tötungshandlung – getragen von der Steuerungsgewalt des Arztes über das Geschehen.

Rechtlicher Kern: Freiverantwortlichkeit als Zurechnungsgrenze

Der maßgebliche Rechtsbegriff, um die Strafbarkeit zu begründen, ist der der „Freiverantwortlichkeit“. In Anlehnung an seine ständige Rechtsprechung differenziert der BGH zwischen einem tatsächlich autonomen und einem krankheitsbedingt fremdbestimmten Suizidentschluss. In letzterem Fall fehlt dem Suizid die strafrechtlich anerkannte Selbstverantwortlichkeit, die sonst zur Straffreiheit des Helfers führt.

Hier war nach den rechtsfehlerfrei festgestellten Tatsachen unstreitig, dass der Verstorbene aufgrund seiner unbehandelten psychischen Erkrankung – konkret einer paranoiden Schizophrenie kombiniert mit einer depressiven Episode – nicht in der Lage war, eine realitätsbezogene, autonome Entscheidung über sein Lebensende zu treffen. Besonders gravierend war, dass er trotz erfolgreicher Augenoperationen unerschütterlich an seinem Wahn festhielt, er werde erblinden, und keinerlei therapeutische Optionen mehr für sich annahm – obwohl solche existierten.

Entscheidend war, dass dem Angeklagten dies bewusst war. Gleichwohl stellte er in seinem Befundbericht unter Umgehung der etablierten psychiatrischen Klassifikationen eine eigene Terminologie auf, um die Erkrankung zu relativieren und das Vorliegen eines freiverantwortlichen Sterbewunsches zu konstruieren. Seine Argumentation, es handle sich um eine „plausibel nachvollziehbare Reaktion auf die Lebenslage“, wurde als bewusst unzutreffende Verengung des Freiverantwortlichkeitsbegriffs gewertet – mit der Konsequenz, dass er sich die Tatherrschaft über die Selbsttötung zurechnen lassen musste.

Tatherrschaft und mittelbare Täterschaft

Ein weiterer Dreh- und Angelpunkt der Entscheidung ist die Frage, ob und wann eine Suizidbegleitung die Schwelle zur täterschaftlichen Tötung überschreitet. Der BGH verlangt hier – neben dem Mangel an Freiverantwortlichkeit – eine vom Täterwillen getragene Steuerung des tödlichen Geschehens. Im vorliegenden Fall wurde diese Tatherrschaft bejaht, da der Arzt nicht nur den medizinischen Zugang schuf und das tödliche Mittel beschaffte, sondern durch seine gutachterliche Autorität und das unmittelbare Arrangement der Abläufe den Rahmen setzte, in dem der Betroffene nur noch eine minimale körperliche Bewegung ausführen musste, um zu sterben. Die faktische Macht über Leben und Tod lag damit beim Angeklagten.

Auch subjektiv war dieser Täterwille zu bejahen. Der Angeklagte wusste, dass er sich möglicherweise rechtswidrig verhielt, nahm dies jedoch in Kauf, um aus seiner Sicht ethisch gebotene Hilfe zu leisten und zugleich ein rechtspolitisches Signal für eine liberalere Bewertung von Suizidwünschen psychisch Kranker zu setzen. Diese Haltung schloss einen Verbotsirrtum aus – vielmehr handelte der Arzt mit dolus eventualis.

Methodischer Umgang mit den dogmatischen Streitfragen

Beeindruckend an der Entscheidung ist, dass der Senat sowohl die Einwilligungslehre als auch die sogenannte Exkulpationslösung aus der Literatur berücksichtigt und darlegt, dass nach beiden Denkschulen im konkreten Fall keine Straflosigkeit möglich war. Dies verleiht der Entscheidung eine besondere argumentative Stringenz: Sie ist nicht bloß einseitig gesetzestreu, sondern auch methodologisch reflektiert.

Zudem wendet sich der BGH deutlich gegen jegliche Relativierung der Maßstäbe zur Freiverantwortlichkeit im psychiatrischen Ausnahmefall. Der subjektiv gut gemeinte Ansatz des Arztes, aus Mitleid zu helfen, kann nicht über die objektiv schädliche Wirkung hinwegtrösten, dass einem Kranken der Weg in den Tod geebnet wurde, obwohl dieser Hilfe zur Gesundung dringlicher gewesen wäre.


Ergebnis

Der BGH-Beschluss ist dogmatisch präzise, argumentativ tief und zugleich ein ethisch gewichtiger Beitrag zur Frage: Wann ist Suizidhilfe strafbar? Die zentrale Aussage lautet: Auch in Zeiten wachsender Akzeptanz für assistierten Suizid bleibt die Grenze dort, wo psychische Krankheit die Selbstbestimmung überlagert. Wer diese Grenze erkennt und dennoch handelt, wird strafrechtlich nicht geschont – auch dann nicht, wenn er aus edlen Motiven agiert.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

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