Mit Beschluss vom 21. August 2024 (Az. 3 StR 119/24) hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine praxisrelevante und dogmatisch anspruchsvolle Entscheidung zum Verhältnis von Maßregeln nach §§ 63 und 64 StGB sowie zur Reichweite des § 55 StGB getroffen.
Im Mittelpunkt steht die Frage, ob eine frühere Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt durch ein späteres Urteil, das lediglich die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnet, nachträglich für gegenstandslos erklärt werden kann – obwohl keine neue Verurteilung vorliegt. Der BGH verneint dies aus rechtsstaatlichen und systematischen Gründen und klärt damit zentrale Fragen zum Verhältnis von Erkenntnisverfahren, Rechtskraft und Maßregelvollzug.
Sachverhalt
Der Angeklagte hatte nach einer Auseinandersetzung seinen Bekannten mit einem Messer getötet. Die Strafkammer ging dabei unter Einbeziehung eines psychiatrischen Sachverständigen davon aus, dass seine Steuerungsfähigkeit infolge multipler psychischer Erkrankungen erheblich vermindert oder sogar aufgehoben war. Sie sprach ihn vom Vorwurf des Totschlags frei und ordnete nach § 63 StGB die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.
In einem früheren Urteil des Amtsgerichts Montabaur war bereits die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB wegen anderer Taten (Diebstähle u.a.) rechtskräftig angeordnet worden. Das Landgericht erklärte diese Maßregel im neuen Urteil „für gegenstandslos“, weil die Voraussetzungen für eine Behandlung nach § 64 StGB nicht mehr vorlägen.
Rechtliche Problemstellung
Der BGH hatte zu klären, ob diese Erklärung mit den Vorschriften der §§ 55 ff. StGB in Einklang steht – insbesondere mit § 55 Abs. 2 Halbsatz 2, der die (Nicht-)Aufrechterhaltung früherer Nebenfolgen bei nachträglicher Gesamtstrafenbildung regelt.
Dabei stellt sich vor allem die Frage, ob § 55 Abs. 2 überhaupt zur Anwendung kommen kann, wenn im neuen Urteil – wie hier – gerade keine Verurteilung, sondern ein Freispruch erfolgt.
Dogmatische Analyse
Keine Anwendung des § 55 Abs. 2 Halbs. 2 StGB ohne neue Verurteilung
Der BGH stellt klar, dass § 55 Abs. 2 Halbsatz 2 StGB nur dann eingreift, wenn im neuen Urteil eine Verurteilung ausgesprochen wird. Dies folgt aus dem eindeutigen Wortlaut („wenn jemand wegen einer Straftat verurteilt wird“) und wird durch die Systematik des Maßregelrechts bestätigt. Ein Freispruch – selbst bei gleichzeitiger Anordnung einer Maßregel nach § 63 StGB – genügt hierfür nicht.
Dementsprechend kann das neue Urteil keine Nebenstrafen oder Maßregeln aus einem früheren Urteil für „gegenstandslos“ erklären, da es an der Voraussetzung der Durchbrechung der Rechtskraft durch eine Verurteilung fehlt. Das frühere Urteil bleibt insoweit eigenständig und wirksam.
Keine analoge Anwendung – Rechtsstaatliche Schranken
Auch eine analoge Anwendung von § 55 Abs. 2 StGB lehnt der BGH ab. Die Norm bezweckt den Schutz des Angeklagten vor kumulativer Belastung und stellt eine Ausnahmevorschrift zur Rechtskraft dar. Analogien in diesem Bereich würden die Rechtssicherheit gefährden und müssten – wenn überhaupt – gesetzgeberisch begründet werden.
Darüber hinaus verweist der BGH auf die Möglichkeit, konfligierende Maßregelentscheidungen im Vollstreckungsverfahren zu harmonisieren: Gemäß § 67a Abs. 1 StGB kann die Strafvollstreckungskammer im Einzelfall über die Vorrangigkeit einer Maßregel entscheiden, etwa wenn eine psychiatrische Unterbringung gegenüber einer Entziehungstherapie Vorrang verdient oder umgekehrt. Diese spezialgesetzlich geregelte Kompetenzordnung verhindert, dass das Erkenntnisverfahren in rechtskräftige frühere Entscheidungen eingreift.
Verhältnis zu § 67f StGB
Der Senat nimmt schließlich Stellung zur Spezialregelung des § 67f StGB, wonach eine frühere Anordnung der Maßregel erledigt ist, wenn eine spätere gleichartige Maßregel getroffen wird. Diese Regel gilt jedoch ausschließlich für gleichartige Anordnungen (z. B. zwei Maßnahmen nach § 64 StGB) und ist nicht auf das Verhältnis zwischen § 63 und § 64 StGB übertragbar.
Ergebnis
Der BGH hebt die Gegenstandslosigkeitserklärung auf. Das frühere Urteil des Amtsgerichts Montabaur vom 15. März 2023 bleibt in seiner Maßregelwirkung bestehen. Die Entscheidung, ob die Resozialisierung des Angeklagten künftig eher durch die Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik (§ 63 StGB) oder in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) zu erreichen ist, obliegt der Strafvollstreckungskammer im Wege der vollstreckungsrechtlichen Überleitung nach § 67a Abs. 1 StGB.
Die Quintessenz dieser Entscheidung liegt in der klaren Grenzziehung zwischen Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren sowie in der Bewahrung der Rechtskraft. Der BGH bekräftigt, dass Maßregeln nicht beliebig im Erkenntnisverfahren „kassiert“ werden dürfen, sondern einer differenzierten und regelgebundenen Handhabung bedürfen – im Dienste der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit.
- “Duzen” ist keine Beleidigung - 16. Juli 2025
- Bedrohungslage von kommerziellen Satelliten - 15. Juli 2025
- Influencer im Visier der Steuerfahndung - 15. Juli 2025