Führerscheintourismus: EU-Führerschein und fragwürdige Angaben

Beim OVG Koblenz (10 B 11099/15.OVG) ging es wieder einmal um eine im Ausland erworbene und die Frage, ob der Wohnsitz dort regelgerecht begründet war zum Zeitpunkt des Erwerbs der Fahrerlaubnis. Die Entscheidung zeigt, dass auch eine positive Antwort des Aussteller-Staates nicht ausreichend ist, wenn ein inländischer Wohnsitz durchweg begründet war und sich die Auskunft des Aussteller-Mitgliedsstaats der Fahrerlaubnis alleine auf das Melderegister bezieht.

Aus der Entscheidung:

Um – wie hier – den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von durch EU-Mitgliedstaaten erteilten Fahrerlaubnissen (…) zu durchbrechen, müssen entweder Angaben im oder andere vom Aussteller­mitglied­staat herrührende unbestreitbare Informationen vor­liegen, die darauf hin­weisen, dass das Wohnsitzerfordernis (…) nicht eingehalten wurde (…) Nur diese – abschließend genannten – Erkenntnisquellen können als Grundlage bzw. Ausgangspunkt für eine Prüfung des Aufnahmemitgliedstaats dienen, ob ein Wohnsitzverstoß der Anerkennung des Führerscheins entgegensteht (…)

Die Gerichte haben auf dieser Grundlage die Befugnis und die Verpflichtung, die vom Ausstellermitgliedstaat stammenden Informationen erforderlichenfalls darauf hin zu bewerten und zu beurteilen, ob sie unbestreitbar sind und ob sie belegen, dass der Führerscheininhaber im Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaub­nis seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitglied­staats hatte (…) Im Rahmen dieser Beurteilung sind die Gerichte des Auf­nahmemitgliedstaats nicht auf die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informa­tionen beschränkt, sondern ihre Prüfung hat unter Berücksichtigung aller Umstände des Rechtsstreits zu erfolgen (…) Die vom Ausstellermitglied­staat herrührenden Informationen bilden dabei also den „Rahmen“, innerhalb dessen die Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats alle Umstände eines vor ihnen anhängi­gen Verfahrens berücksichtigen dürfen (…) Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann das Gericht bei seiner Prüfung insbesondere den etwaigen Umstand berücksichtigen, dass die vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen darauf „hinweisen“, dass sich der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellermitgliedstaats nur für ganz kurze Zeit aufgehalten und dort einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck errichtet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Aus­stellung eines Führerscheins im Mitgliedstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen (…) Hin­sichtlich der Frage des Beweiswerts der vom Ausstellermitgliedstaat herrührenden Informationen für das Nichtbestehen eines dortigen ordentlichen Wohnsitzes im Zeitpunkt der Fahrerlaubniserteilung ist es damit unter Zugrundelegung dieser Rechtspre­chung ausreichend, dass sich aus ihnen die bloße Möglichkeit einer solchen Sachverhaltsgestaltung ergibt, ohne dass durch sie die Begründung eines reinen Scheinwohnsitzes bereits abschließend erwiesen worden sein muss. Es genügt, wenn den vom Ausstellermitgliedstaat herrühren­den Informationen lediglich „Indizcharakter“ für die Nichterfüllung des Wohn­sitzerfordernisses zukommt bzw. wenn diese Informationen eine Missachtung des unionsrechtli­chen Wohnsitzerfordernisses als möglich erscheinen lassen (…)

Die vom Ausstellermitgliedstaat – Polen – herrührenden Informationen besagen, dass dem Antragsteller unter Zugrundelegung der Adresse „…“ am 23. November 2012 eine Fahrerlaubnis der Klasse B erteilt wurde. Auf die Frage hinsichtlich der (Nicht-)Erfüllung des Wohnsitzerfordernisses hat die polnische Behörde angegeben, dass der Antragsteller nach ihren Informa­tionen dort seinen gewöhnlichen Wohnsitz („normal residence“) hatte, und zwar basierend auf der Angabe „Place where person usually lives for at least 185 days each calendar year“. Über weitere Angaben verfügt die polnische Behörde offenbar nicht („unkown“). Die Erkenntnisse der polnischen Behörde, die sich offenkundig ausschließlich auf die melderechtlichen Angaben stützen, besagen damit zwar keineswegs, dass ein Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip vorliegt. Ebenso wie die Erklärung einer Behörde, sie habe die Wohnsitzvoraussetzung nicht geprüft, keine Information darstellt, die zur Nichtanerkennung der ausländischen Fahrerlaubnis berechtigt, weil die Erklärung nicht beweist, dass der Inhaber seinen Wohnsitz nicht im Gebiet des Ausstellermitgliedsstaats gehabt habe (…), kann der Umstand, dass den Behörden etwaige familiäre, berufliche, geschäftliche oder sonstige Verbindungen des Betroffenen nicht bekannt sind, als solcher nicht zu seinen Lasten gehen.

Die auf die sonstigen Umstände bezogenen Angaben sind hier zudem jedenfalls hinsichtlich des Innehabens einer Wohnung ohnehin nicht eindeutig („yes“ bzw. „unkown“). Dies ändert aber nichts daran, dass Informationen ausschließlich auf einer melderechtlichen Grundlage geeignet sein können, auf einen Wohnsitzverstoß „hinzuweisen“. Dies ergibt sich hier aus der Gesamtschau, dass der polnischen Behörde über die melderechtliche Information hinaus tatsächliche Umstände des ausländischen Wohnsitzes nicht bekannt sind und der Antragsteller durchgehend (auch) einen Wohnsitz in Deutsch­land hatte. Auch wenn das Bestehen des inländischen Wohnsitzes keine vom Ausstellermitgliedstaat herrührende Information ist, setzt der „Hinweis“ auf einen Wohnsitzverstoß im Sinne von § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV denklogisch voraus, dass ein anderweitiger (nämlich inländischer) Wohnsitz bestanden hat. Davon geht § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 FeV aus, wenn die Norm darauf abstellt, dass der Betroffene seinen „ordentlichen Wohnsitz im Inland“ hatte. Dies dürfte auch den praktischen Gegebenheiten Rechnung tragen. Einen Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip kann der Aufnahmemit­gliedstaat auf Grundlage lediglich melderechtlicher Informationen des Ausstellermitgliedstaats nämlich regelmäßig in erster Linie nur dann in Betracht ziehen, wenn der Führerscheininhaber in der maßgeblichen Zeit (auch) einen inländischen Wohnsitz gehabt hat. Ansonsten wäre ein Wohnsitzverstoß vielfach nur dann überhaupt erkennbar, wenn der Ausstellermitgliedstaat diesen und damit eine fehlerhafte Erteilung einer Fahrerlaubnis – ggf. auf Anfrage – positiv bestätigen würde. Die alleinige melderechtliche Information ohne Kenntnisse über tatsächliche Umstände des polnischen Wohnsitzes ist damit bei gleichzeitig beibehaltenem Wohnsitz in Deutschland ein „Hinweis“ darauf, dass sich Antragsteller nur für ganz kurze Zeit in Polen aufgehalten und dort einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck errichtet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins in Deutschland zu umgehen. Dies bedeutet – entgegen der Ansicht des Antragstellers – keine Beweislastumkehr zu seinen Lasten. Hierbei geht es vielmehr allein um die Bestimmung des „Ausgangspunkts“ der Prüfung des Wohnsitzverstoßes, nämlich der Informationen des Ausstellermitgliedstaats, die sodann unter Einbeziehung aller Umstände des Falles vom Antragsgegner zu bewerten sind.

Liegen damit unbestreitbare Informationen des Ausstellermitgliedstaats vor, aus denen sich die Möglichkeit ergibt bzw. die darauf hinweisen, dass die Wohn­sitzvoraussetzung nicht erfüllt war, sind zur endgültigen Beurteilung der Frage der Einhaltung dieser Voraussetzung die Umstände des gesamten Falles heranzuzie­hen, d.h. auch alle „inländischen Umstände“ (…) Deren Funktion besteht darin, dass sie ergänzend zu den vom Ausstellermitgliedstaat stammenden Informatio­nen hinzutreten, um etwaige Lücken hinsichtlich der Beweiskraft dieser Erkennt­nisse zu schließen (…)

Maßgeblich für die Erfüllung oder Nichterfüllung des Wohn­sitzerfordernisses sind die tatsächlichen Wohn- und Lebensverhältnisse des Betroffenen, nicht aber die Eintragungen in behördliche Register (…) Die bloße einwohnerrechtliche Mel­dung, die hier sowohl für Deutschland als auch – so lässt sich die Erklärung der polnischen Behörden verstehen – für Polen vorliegt, sagt ebenso wie das bloße Innehaben einer Wohnung nichts darüber aus, wo sich der ordentli­che Wohnsitz befindet. Gerade wenn jemand sich unter zwei Wohnungen ange­meldet hat und/oder zwei Wohnungen in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten inne­hat, ist zu klären, welche Wohnung die maßgebliche Wohnung ist (…)

Rechtsanwalt Dieter Ferner (Fachanwalt für Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Dieter Ferner (Fachanwalt für Strafrecht)

Rechtsanwalt Dieter Ferner ist Fachanwalt für Strafrecht und Anwalt in der Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf. Spezialgebiete von RA DF: Verkehrsstrafrecht, Kapitalstrafsachen, Drogendelikte, Sexualstrafrecht und Arbeitsstrafrecht.

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