Wie viel Überwachung verträgt die Freiheit? Studie zur deutschen Überwachungsgesamtrechnung

Wie frei ist unsere Gesellschaft – wie Überwacht unser Alltag: Die Idee einer Überwachungsgesamtrechnung (ÜGR) liest sich zunächst wie eine ambitionierte Verwaltungsübung: Alle staatlichen Überwachungsmaßnahmen sollen erfasst, bewertet und in ein Gesamtbild integriert werden. Doch der im Januar 2025 veröffentlichte – und nun still und leise öffentlich zugänglich gemachteForschungsbericht des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht zeigt, dass weit mehr dahintersteckt. Es geht um nichts weniger als die Frage nach dem Maß an staatlicher Kontrolle, das eine freiheitlich-demokratische Grundordnung noch zulassen kann, ohne ihren Wesenskern zu gefährden.

Ursprung und verfassungsrechtlicher Impuls

Die Überwachungsgesamtrechnung wurzelt in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung – insbesondere im berühmten Urteil zur von 2010. Dort betonte das die Notwendigkeit, bei neuen Überwachungsbefugnissen stets die bereits bestehenden Datensammlungen mitzudenken. Daraus erwuchs der Gedanke, das „Überwachungsniveau“ des Staates systematisch zu bilanzieren – nicht nur juristisch, sondern auch empirisch. Diese Idee blieb lange theoretisch, bis sich die Ampel-Koalition ab 2021 politisch dazu bekannte, sie in die Praxis umzusetzen.

Zielsetzung und methodischer Ansatz

Ziel der Pilotstudie war es, ein belastbares Konzept zur Evaluation staatlicher Überwachungsmaßnahmen zu entwickeln. Dies geschah entlang zweier Achsen: einer normativen Bewertung der Eingriffsintensität und einer empirischen Erhebung der Anwendungshäufigkeit. Auf dieser Basis wurde ein flexibles Indexmodell geschaffen, das sowohl sektorale als auch regionale Vergleiche erlaubt.

Besonders bemerkenswert ist dabei, dass die Studie keinen Maßstab setzt, was „zu viel“ sei. Sie verweigert sich der Idee eines festen Überwachungs-Limits. Stattdessen bietet sie ein datenbasiertes Instrumentarium, mit dem Entwicklungslinien, Belastungsspitzen oder auffällige regionale Unterschiede sichtbar gemacht werden können. Vergleichbar der Gefangenrate, die weltweit als Indikator für die Punitivität von Staaten gilt, soll auch der Überwachungsindex langfristig als informelle Benchmark dienen.

Erkenntnisse: Transparenzlücken und datentechnisches Niemandsland

Ein zentrales Ergebnis der Studie ist ernüchternd: Die behördliche Dokumentationspraxis erweist sich als defizitär. In vielen Fällen existieren kaum systematisierte Daten, manche Überwachungsmaßnahmen lassen sich nur durch aufwändige manuelle Recherchen rekonstruieren. Papierakten dominieren noch immer, zentrale Datenbanken fehlen – selbst im digitalen Zeitalter.

Diese mangelnde Transparenz ist nicht nur ein praktisches Problem. Sie hat eine verfassungsrechtliche Dimension. Die Demokratie lebt davon, dass staatliches Handeln nachvollziehbar ist. Doch wo Daten fehlen, bleibt die Kontrolle auf Behauptungen angewiesen. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach betont, dass Nachvollziehbarkeit und Dokumentation gerade im Bereich grundrechtsrelevanter Eingriffe konstitutive Voraussetzungen rechtlicher Legitimität sind.

Die politische Brisanz: Zwischen Kontrolle und Vertrauen

Bemerkenswert ist, dass sich die Studie klar von einem pauschalen Überwachungsskeptizismus distanziert. Sie will die Legitimität nicht untergraben, sondern stärken – durch Rationalität und Transparenz. Dennoch wurde sie von der Innenministerkonferenz kritisch aufgenommen. Es scheint, als schwinge bei mancher politischen Reaktion ein Unbehagen mit: Die ÜGR könnte offenlegen, was man bisher lieber im Nebel belassen hat.

Gleichzeitig liefert die Studie genau das, was viele Befürworter starker Sicherheitsmaßnahmen immer wieder fordern: eine faktenbasierte Grundlage für die Debatte. Wer Überwachung ernsthaft verteidigen will, sollte auch bereit sein, sie empirisch zu bilanzieren – gerade im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Folgewirkungen.

Ausblick

Die Pilotstudie ist jedenfalls von der Idee ein Meilenstein, aber sie ist erst ein (kleiner) Anfang. Ihre Stärke liegt nicht nur in der Konzeption des Instruments, sondern auch in dessen Offenheit für Weiterentwicklung. Eine dauerhafte Institutionalisierung – etwa durch eine unabhängige Freiheitskommission – wäre der nächste logische Schritt. Gleichzeitig braucht es auf Seiten der Behörden eine neue Kultur der Dokumentation, Offenheit und datenbasierten Selbstreflexion. Leider ist das keine Stärke in unserer Republik.

Was die Studie deutlich macht: Nicht jede Überwachung ist ein Problem. Aber jede Überwachung muss dokumentiert, nachvollziehbar und in ihrem gesellschaftlichen Kontext begreifbar sein. Nur so lässt sich Vertrauen in den freiheitlichen Rechtsstaat erhalten – und wo nötig, auch kritisch hinterfragen.

Philosophische Tiefenschärfe: Freiheit als messbare Größe?

Die Überwachungsgesamtrechnung stellt die bislang weitgehend ungestellte Frage, ob sich Freiheit quantifizieren lässt – oder zumindest ihre Einschränkungen. Sie bewegt sich damit auf einem Grat zwischen liberaler Demokratietheorie und realpolitischem Sicherheitsdenken. In der Perspektive von Michel Foucault oder Byung-Chul Han offenbaren sich hier panoptische Dynamiken, in denen der Einzelne sich selbst zu disziplinieren beginnt – allein aus der Gewissheit, potentiell überwacht zu werden.

Das Projekt reagiert auf diese Gefahr nicht mit Larmoyanz, sondern mit Rationalisierung. Die Überwachungsgesamtrechnung ist der Versuch, den Schatten zu vermessen, den der Staat wirft. Nicht um ihn zu verbannen, sondern um ihn erkennen und steuern zu können.

Fachanwalt für Strafrecht & IT-Recht bei Anwaltskanzlei Ferner Alsdorf
Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung.
Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity)
Letzte Artikel von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity) (Alle anzeigen)

Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht - zertifizierter Experte in Krisenkommunikation & Cybersecurity)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht mit Schwerpunkt Cybersecurity & Softwarerecht. Ich bin zertifizierter Experte für Krisenkommunikation & Cybersecurity; zudem Autor sowohl in Fachzeitschriften als auch in einem renommierten StPO-Kommentar zum IT-Strafprozessrecht und zur EU-Staatsanwaltschaft.Als Softwareentwickler bin ich in Python zertifiziert und habe IT-Handbücher geschrieben.

Erreichbarkeit: Per Mail, Rückruf, Threema oder Whatsapp.

Unsere Kanzlei ist spezialisiert auf Starke Strafverteidigung, seriöses Wirtschaftsstrafrecht und anspruchsvolles IT-Recht inkl. IT-Sicherheitsrecht - ergänzt um Arbeitsrecht mit Fokus auf Managerhaftung.