Urteil: OLG Stuttgart zur Haftung und Verantwortlichkeit bei „Wikipedia“

Das OLG Stuttgart (4 U 78/13) hat sich zur Haftung bei Wikipedia geäußert, auch hinsichtlich der früheren Artikel-Versionen. Die Entscheidung klärt einige grundlegende Fragen, wirft zudem aber auch Probleme auf. Letztlich wird eine konkrete Prüfungsvorgabe für Wikipedia entwickelt, die sich bei uns auch als Darstellung findet (dazu am Ende!).

Zum einen stellte die Entscheidung klar, dass es keine „proaktive Prüfungspflicht“ von Inhalten gibt, sprich: Es müssen keine Prüfungen von Inhalten auf potentielle Rechtsverletzungen „ins Blaue hinein“ vorgenommen werden

Stellt der Betreiber einer Online-Enzyklopädie (hier: Wikipedia) lediglich Dritten (den Nutzern) die Plattform und einen Speicherplatz zur Verfügung, damit diese selbst verfasste Beiträge hinterlegen können, ohne dass eine Vorabkontrolle oder eine nachträgliche Steuerung durch eine Redaktion stattfindet, treffen ihn grundsätzlich hinsichtlich persönlichkeitsrechtsbeeinträchtigender Inhalte keine proaktiven Prüfungspflichten.

Allerdings wird ganz normal im Zuge der dann gehaftet, wenn die Betreibergesellschaft von Wikipedia durch den Verletzten über persönlichkeitsrechtverletzende Inhalte in Kenntnis gesetzt wird – und dennoch nicht reagiert. Daneben wurde aber klargestellt, dass es auch innerhalb der Wikipedia einen Schutz der bei Artikeln gibt.

Bis hierhin scheint somit alles klar und entsprechend mit der bisherigen Rechtsprechung. Doch die eigentlichen Streitpunkte kommen erst noch.

1. Privilegierte Quelle
Instruktiv sind die Ausführungen zur „privilegierten Quelle“, wobei das OLG hier zu Gunsten der Tatsache entscheidet, dass bei Wikipedia Bearbeitungen durch Privatpersonen erfolgen:

Soweit die Beklagte sich darauf beruft, der Autor des Beitrags über den Kläger in der Online-Enzyklopädie der Beklagten habe sich auf eine sog. „privilegierte Quelle“ stützen können, trifft es zwar zu, dass sich der Äußernde auf Angaben einer sog. privilegierten Quelle grundsätzlich verlassen darf und die Pflicht zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt in einem solchen Fall nicht gebietet, deren Richtigkeit zu überprüfen (BGH GRUR 2013, 312 Tz. 27 ff. – IM Christoph; Soehring, a.a.O., § 21 Tz. 21, 21 c; Wenzel-Burkhardt, a.a.O., § 6 Rn. 134 ff.; Damm/Rehbock, a.a.O., Rn. 676 ff.). Solche zuverlässigen Quellen sind insbesondere Behörden und allgemein anerkannte Presseagenturen, nicht hingegen ohne weiteres andere Presseorgane (Wenzel-Burkhardt und Damm/Rehbock, jew. ebenda; Soehring, a.a.O., § 2 Tz. 20 b und 21 c). Die „Stuttgarter Zeitung“ stellt mithin entgegen der Auffassung der Berufung nicht ohne weiteres eine privilegierte Quelle dar; doch ist im vorliegenden Fall zu beachten, dass die Meldung in der „St Zeitung“ vom 04.04.2008 – vom Kläger unbestritten – ihrerseits auf Auskünften der B-W Landesanstalt für Kommunikation und der zuständigen Ö Kommunikationsbehörde A, also „indirekt“ auf privilegierten Quellen beruht; zudem ist zu berücksichtigen, dass für Privatleute insoweit weniger strenge Regelungen gelten als für die Medien (BVerfG NJW 1992, 1439, 1442; BGH GRUR 2013, 312 Tz. 28).

2. Klarstellender Hinweis
Gestritten wurde unter anderem um die Frage, ob eine zulässige vorlag, als zum einen über medienaufsichtsrechtliche Prüfungsverfahren berichtet wurde, zum anderen aber klargestellt wurde „In beiden Fällen gab es jedoch weder straf- noch medienrechtliche Konsequenzen“. Dies lehnte das Gericht am Ende ab:

Richtigerweise darf auch über die Ausräumung des Tatverdachts und die Beendigung eines Ermittlungsverfahrens durch oder eines Strafverfahrens durch Freispruch auch dann nicht mehr berichtet werden, wenn die Einstellung oder der Freispruch mitgeteilt werden, da durch eine solche Berichterstattung zwangsläufig auch der Tat(--)Vorwurf erneut wiedergegeben und der Betroffene dadurch belastet würde (OLG Brandenburg; KG; Soehring; ferner Prinz/Peters a.a.O., Rn. 107, 272, 853).

3. Online-Archive?
Fraglich ist, ob sich insgesamt dann doch eine Zulässigkeit ergeben könnte, wenn es sich um eine zulässige frühere Berichterstattung handelt, die trotz inhaltlicher Überholung auf Grund des Informationsinteresses zulässig wäre. Der BGH stellte diese Grundsätze auf („Online-Archiv I“, VI ZR 227/08; „Online-Archiv II“, VI ZR 228/08), hatte dabei in den bisherigen Entscheidungen aber klare Leitlinien: Dabei hatte er geäußert dass typische Online-Archive (es ging hier um solche von Zeitungen) nur bei gezielter Suche von Betroffenen die „problematischen“ Inhalte zu Tage fördern.
Das Gericht war aber der Auffassung, dass dieser Ansatz hier nicht passt. Vielmehr sind diese Gedanken auf Beiträge in derartigen Online-Enzyklopädien wie Wikipedia, die auf Aktualisierung angelegt sind, nicht übertragbar.

Zum einen wird die „geringe Breitenwirkung“ abgelehnt:

Es ist aber bereits zweifelhaft, ob deshalb wie in den vom entschiedenen Fällen eine geringe Breitenwirkung angenommen werden kann, nachdem die Online-Enzyklopädie der Beklagten wie allgemein bekannt die weltweit und auch in Deutschland führende frei zugängliche Online-Enzyklopädie ist und – wie die Beklagte selbst betont – allein auf die deutschsprachige Version im Monat mehr als 818 Mio. Mal zugegriffen wird. Zwar zeigt dies ein erhebliches Informationsinteresse der Öffentlichkeit, sich über die Einträge in der Online-Enzyklopädie der Beklagten zu informieren (so zu Recht LG Tübingen, a.a.O., Rn. 27 in Juris), auch und vor allem von Personen, für welche das Angebot der Beklagten eine geschriebene Enzyklopädie ersetzt; doch bewirkt dies gleichzeitig eine größere Breitenwirkung des Eingriffs.

Letztlich kommt es darauf aber nicht an, da das Gericht zu dem Ergebnis kommt, dass „Online-Archive“ mit „Wikipedia-Artikeln“ gar nicht vergleichbar sind – denn letzte sind immer aktuell:

Entscheidend ist aber, dass es sich bei den Artikeln in der Online-Enzyklopädie der Beklagten gerade nicht um archivierte Altmeldungen handelt, welche nur für solche vorgesehene Internetseiten zugänglich und als solche ausdrücklich gekennzeichnet oder klar erkennbar wären. Vielmehr beruht die Funktionsweise der Enzyklopädie der Beklagten ja darauf, dass ihre Nutzer die vorhandenen Einträge und Artikel ständig aktualisieren (können). Der Artikel, welcher die beanstandeten Äußerungen enthält, stellt mithin die „aktuelle“ Biografie des Klägers dar. Voraussetzung für die Anwendung der „besonderen Maßstäbe“, welche für Online-Archive aufgestellt worden sind, ist aber gerade, dass die in solchen Archiven bereitgehaltene Berichterstattung in einer Weise dargeboten wird, die sie als Altmeldung erkennbar macht, was regelmäßig voraussetzt, dass der Bericht in einem eigenständigen, als Archiv erkennbaren Bereich eines Online-Auftritts bereitgehalten und mit einem den historischen Charakter deutlich machenden Datum versehen ist, so dass, wo dies nicht der Fall ist, eine Archivprivilegierung nicht in Betracht kommt, sondern sich die Zulässigkeit der Berichterstattung nach den üblichen, für die Verdachtsberichterstattung und die Berichterstattung über entwickelten Kriterien richtet (so zu Recht Kröner, a.a.O., 33/67).

Das Fazit ist durchwachsen: Grundsätzlich kommt man mit dem OLG bei Wikipedia zu keiner ausufernden Störerhaftung, erst Recht zu keiner proaktiven Prüfpflicht, was für ein Online-Lexikon das Aus bedeuten könnte und wohl auch würde. Gleichwohl wird am Ende die Betreibergesellschaft in die Pflicht genommen – ab Kenntnisnahme hinsichtlich eines Rechtsverstosses hat man zu reagieren. Dabei hat das Gericht klargestellt, dass die Autoren, die an solchen Artikeln mitarbeiten (selbstverständlich) den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit genießen; das bedeutet, dass offensichtliche Meinungsäußerungen (hier ging es um den Begriff der „Gehirnwäsche“) geschützt sind. Andererseits konnte das Gericht damit die Frage offen lassen, ob die Betreibergesellschaft der Wikipedia sich auf den Schutz des Art.5 I GG berufen konnte.

Wie muss die Wikipedia nun damit umgehen? Das OLG möchte die vom BGH aufgestellten Grundsätze für Hostprovider zur Anwendung bringen:

Aufgrund der geschilderten Funktionsweise der Online-Enzyklopädie der Beklagten kann ebenso wenig wie bei einem unter einer Internet-Adresse betriebenen Informationsportal, bei dem eine redaktionelle Kontrolle nicht durchgeführt wird […] ein Zu-Eigen-Machen angenommen werden. Insofern kann für die Beklagte nichts anderes gelten als für einen Host-Provider, welcher die technische Infrastruktur und den Speicherplatz für einen Blog zur Verfügung stellt, für den der Bundesgerichtshof ein Zu-Eigen-Machen ebenfalls verneint hat (BGH GRUR 2012, 311 Tz. 3, 20 – Blog-Eintrag).

In dieser Entscheidung des Bundesgerichtshofs (VI ZR 93/10) wurde ein konkretes Vorgehen entwickelt, das einzuhalten ist, wenn ein Rechtsverstoss gemeldet wird. Ich habe dieses Vorgehen als Schema hier dargestellt und verweise kurzerhand darauf. Bei Wikipedia wird man insoweit ein entsprechendes Prüfungsverfahren einrichten müssen, wenn man der hiesigen Entscheidung folgen möchte. Eine Übermäßige Haftung wird damit am Ende sicherlich nicht begründet – gleichwohl eine Verantwortlichkeit festgezurrt, der man mit einem feststehenden Prüfungsschema begegnen kann.

Dazu bei uns:

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Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften.

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