Fairness verletzt: Mit Kammerbeschluss vom 27. März 2025 (Az. 2 BvR 829/24) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eine strafrechtliche Entscheidung aufgehoben, weil der Beschwerdeführer in einem Berufungsverfahren ohne Anwesenheit sowohl seiner selbst als auch eines Verteidigers zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war.
Die Karlsruher Richter*innen stellten eine mehrfache Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren fest – und zogen daraus klare verfassungsrechtliche Konsequenzen. Die Entscheidung hat erhebliche Bedeutung für die Praxis der Strafjustiz, insbesondere für Berufungsverfahren mit Abwesenheitsverhandlungen.
Sachverhalt
Dem Beschwerdeführer waren mehrere Straftaten zur Last gelegt worden, darunter Körperverletzung und Bedrohung. Gegen zwei erstinstanzliche Verurteilungen legte er Berufung ein. Für den Termin der Berufungshauptverhandlung am 13. September 2023 meldete sein Verteidiger telefonisch an, dass sich der Mandant wegen einer Verletzung in der Türkei befinde und nicht erscheinen werde – ebenso wenig wie er selbst. Der Vorsitzende wies auf § 329 StPO (Abwesenheitsverhandlung) hin.
Tatsächlich reiste der Angeklagte jedoch noch am selben Abend nach Deutschland ein. Am Verhandlungstag erschien er nicht – ebenso wenig sein Verteidiger. Das Landgericht Frankfurt verwarf die Berufungen des Angeklagten und verurteilte ihn auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin zu einer nicht zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Die Revision blieb erfolglos. Erst das BVerfG gewährte Rechtsschutz.
Rechtliche Analyse
1. Notwendige Verteidigung gemäß § 140 Abs. 2 StPO
Nach Auffassung des BVerfG lag im vorliegenden Fall ein Fall der notwendigen Verteidigung vor. Die zu erwartende Gesamtfreiheitsstrafe (über ein Jahr) genügte hierfür bereits. Daraus folgt zwingend: Eine Berufungshauptverhandlung hätte nicht in Abwesenheit eines Verteidigers stattfinden dürfen. Dass der gewählte Verteidiger nicht erschien, entband das Gericht nicht davon, nach § 145 Abs. 1 StPO einen Pflichtverteidiger zu bestellen oder die Hauptverhandlung auszusetzen.
2. Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren
Das BVerfG betont, dass das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt wurde – in zweifacher Hinsicht:
- Effektive Verteidigung: Die Verurteilung erfolgte ohne Verteidiger, obwohl das Gesetz dies in Fällen notwendiger Verteidigung verlangt. Das Strafgericht hätte die Voraussetzungen prüfen und entsprechend handeln müssen.
- Anwesenheitsrecht: Hinzu kommt, dass auch der Beschwerdeführer selbst nicht anwesend war. Da das Gericht im Berufungsurteil die Strafe deutlich anhob und eine Bewährungsentscheidung erstmals zu treffen war, wäre seine persönliche Anhörung zwingend gewesen. Eine Beurteilung der Sozialprognose ohne unmittelbaren Eindruck vom Angeklagten widerspricht dem Schuldprinzip.
3. Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz
Schließlich rügt das BVerfG auch die Entscheidung des Oberlandesgerichts, das die Revision als unbegründet verwarf, ohne sich mit dem Vorbringen substantiiert auseinanderzusetzen. Die Anforderungen an die Revisionsbegründung nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO seien überspannt worden, was den Zugang zum Revisionsgericht unzumutbar erschwert habe – ein klarer Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip.
Die Entscheidung zeigt in aller Deutlichkeit: Weder die Abwesenheit eines Angeklagten noch eines Wahlverteidigers rechtfertigt es, bei bestehender Verteidigungspflicht ohne rechtliche Vertretung zu verhandeln. Die Gerichte sind verpflichtet, Grundrechte auch im forensischen Alltag zu wahren – insbesondere bei drohender Freiheitsentziehung.
Schlussfolgerung
Mit dem Kammerbeschluss vom 27. März 2025 stärkt das BVerfG die verfassungsrechtliche Bedeutung des Rechts auf Verteidigung und fairen Prozess. Es stellt klar: Die Strafjustiz darf sich nicht über Verfahrensgrundsätze hinwegsetzen, um Verhandlungen „durchzuziehen“. Wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegt, ist ohne Verteidiger keine Hauptverhandlung möglich – auch nicht bei scheinbar unkooperativen Angeklagten. Das Urteil ist ein Lehrstück in rechtsstaatlicher Verfahrensführung – und eine Mahnung an alle Instanzen, Verfahrensrechte mit Sorgfalt zu achten.
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