In der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 18. Januar 2024 (Aktenzeichen: 5 StR 473/23) ging es unter anderem um die mögliche Befangenheit einer Staatsanwältin während einer Hauptverhandlung.
Sachverhalt
Der Angeklagte wurde vom Landgericht Leipzig wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen und weiterer Delikte zu einer Gesamtgeldstrafe verurteilt. Er legte Revision ein und rügte unter anderem die tatsächliche Befangenheit der Staatsanwältin als Sitzungsvertreterin. Diese hatte während ihres Schlussvortrags geäußert, sie sei bei Vorwürfen sexualisierter Gewalt gegen Frauen im Allgemeinen und im konkreten Fall befangen und empfinde es als unerträglich, wenn sich eine Frau als Opfer sexualisierter Gewalt kritischen Fragen stellen müsse.
Rechtliche Analyse
Anwendbarkeit der §§ 22 ff. StPO auf Staatsanwälte
Der BGH stellte fest, dass die Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen (§§ 22 ff. StPO) auf Staatsanwälte weder unmittelbar noch analog anwendbar sind. Diese Regelungen gelten nur für Richter, nicht aber für Staatsanwälte. Ein Ausschluss oder eine Ablehnung von Sitzungsvertretern der Staatsanwaltschaft ist gesetzlich nicht vorgesehen. Ein Gericht oder andere Verfahrensbeteiligte können lediglich bei den Vorgesetzten der Staatsanwälte darauf hinwirken, dass diese ausgetauscht werden.
Pflicht zur Objektivität und Verfahrensfehler
Staatsanwälte haben jedoch die Pflicht zur Objektivität und zur Wahrung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, wie sie insbesondere in § 160 Abs. 2 StPO verankert ist. Verletzt ein Staatsanwalt diese Pflicht derart schwer und nachhaltig, dass sein Verhalten als Missbrauch staatlicher Macht erscheint, kann dies das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren beeinträchtigen. In solchen Fällen könnte ein Urteil aufgrund eines Verfahrensfehlers nach § 337 StPO aufgehoben werden:
Dies kann letztlich in der Obliegenheit münden, bei dem Vorgesetzten des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft auf dessen Ersetzung durch einen anderen Staatsanwalt hinzuwirken und seine Bemühungen in der Hauptverhandlung öffentlich zu machen. Fehlt es an einer Reaktion des Gerichts, wird es nur ausnahmsweise auszuschließen sein, dass sich das einem rechtsstaatlichen Verfahren zuwiderlaufende Verhalten des Sitzungsvertreters in dem Urteil zulasten des Angeklagten ausgewirkt hat (…)
Maßstab für die Beurteilung der Befangenheit
Der BGH betonte, dass die Befangenheit eines Staatsanwalts nicht mit demselben strengen Maßstab wie die eines Richters zu beurteilen ist. Die Gründe müssen ähnlich schwer wiegen wie die Ausschlusstatbestände der §§ 22, 23 StPO. Ein Staatsanwalt, der seine Pflicht zur Objektivität verletzt, indem er seine persönliche Voreingenommenheit offenlegt, kann dennoch im Rahmen seiner dienstlichen Funktion tätig sein, solange dies nicht das gesamte Verfahren beeinflusst.
Konkretisierung im vorliegenden Fall
Im vorliegenden Fall hatte die Staatsanwältin während ihres Schlussvortrags geäußert, sie sei bei Fällen sexualisierter Gewalt befangen. Dennoch hatte sie beantragt, den Angeklagten in mehreren Fällen freizusprechen, was darauf hindeutet, dass sie ihre dienstliche Aufgabe objektiv wahrnahm. Der Vorsitzende des Gerichts bestätigte in seiner dienstlichen Erklärung, dass das Verhalten der Staatsanwältin im Übrigen nicht zu beanstanden war und ihre Schlussvorträge auf Grundlage der Beweiserhebung vertretbar waren.
Fazit
Die Entscheidung des BGH verdeutlicht, dass die Vorschriften über die Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen nicht auf Staatsanwälte anwendbar sind. Allerdings müssen Staatsanwälte ihre Pflicht zur Objektivität wahren. Verstößt ein Staatsanwalt in schwerwiegender Weise gegen diese Pflicht, kann dies das Recht des Angeklagten auf ein faires Verfahren beeinträchtigen.
Das Thema ist nicht neu und war eigentlich abgehandelt in der Praxis – der BGH macht es scheinbar kurz; tatsächlich aber wird hier ein neues Fass aufgemacht: Der befangene Staatsanwalt kann das Urteil gefährden. Und ausdrücklich kann das Gericht die Pflicht treffen, auf eine Auswechslung des Sitzungsvertreters hinzuwirken!
Kammern und Staatsanwälte werden hinsichtlich so mancher verbreiteter Verhaltensweise umdenken müssen – und für Strafverteidiger ist das Thema der Befangenheit des Staatsanwalts wieder neu aufgetischt worden.
Im vorliegenden Fall wurde die Befangenheit der Staatsanwältin nicht als ausreichend schwerwiegend angesehen, um einen Verfahrensfehler zu begründen. Glück gehabt.
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