Das Oberlandesgericht Hamm (6 U 101/13) hat sich zum Anscheinsbeweis und Schadensberechnung beim Kettenauffahrunfall geäußert:
- Bei einem Kettenauffahrunfall kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das ihm vorausfahrende Fahrzeug des Geschädigten rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist und nicht durch einen Aufprall auf das vorausfahrende Fahrzeug den Bremsweg des ihm folgenden Fahrzeugs verkürzt hat.
- Führen bei einem Kettenauffahrunfall die Schäden im Front- und Heckbereich des geschädigten Kraftfahrzeugs zu einem wirtschaftlichen Totalschaden und ist nicht feststellbar, ob der Frontschaden durch das Auffahren des nachfolgenden Fahrzeugs verursacht wurde, kann der gegen den Auffahrenden begründete Schadensersatzanspruch betreffend den Heckanstoß nach § 287 ZPO durch die quotenmäßige Aufteilung des Gesamtschadens, gemessen am Verhältnis der jeweiligen Reparaturkosten, ermittelt werden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Verursachung auch des Frontschadens durch den Auffahrenden nicht weniger wahrscheinlich ist als die Entstehung des Frontschadens unabhängig vom Heckaufprall.
Kein Anscheinsbeweis bei Kettenauffahrunfall
Der in der Regel gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für sein Verschulden ist bei Kettenauffahrunfällen wie dem vorliegenden nicht auf die innerhalb der Kette befindlichen Kraftfahrer anwendbar, weil häufig nicht feststellbar ist, wer auf wen aufgefahren ist und wer wen auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben hat (vgl. OLG Hamm, Urteil vom 24.3.2010 – 13 U 125/09 -, abgedr. bei „juris“, Rz. 33 = Schaden-Praxis 2010, 351; Hentschel-König, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., StVO § 4 Rn. 36 m. w. N.). Das gilt insbesondere für die Verursachung des Frontschadens am Fahrzeug des Klägers, weil zwischen den Parteien streitig ist und weder durch das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten noch durch Zeugenaussagen geklärt werden konnte, ob die Ehefrau des Klägers vor dem Aufprall der Beklagten zu 1) auf das ihr vorausfahrende Klägerfahrzeug aufgefahren ist oder ob sie vorher hat rechtzeitig bremsen können und sodann vom Fahrzeug der Beklagten zu 1) auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgeschoben worden ist (vgl. dazu auch: OLG Brandenburg, Urteil vom 1.7.2010 – 12 U 15/10 -, abgedr. bei „juris“, Rz. 6). Die hierzu vom Landgericht vorgenommene und in rechtlicher Hinsicht nicht zu beanstandende Beweiswürdigung ist in der Rechtsmittelinstanz von keiner der Parteien angegriffen worden.
Auch hinsichtlich der – in der Rechtsmittelinstanz – noch streitigen Verursachung des Heckschadens am Fahrzeug des Klägers ist eine andere Bewertung nicht geboten.
aa)
Zwar wird in der Rechtsprechung überwiegend vertreten, dass der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis für ein schuldhaftes Verhalten jedenfalls auf den letzten in der Kette der Unfallfahrzeuge auffahrenden Fahrer anwendbar sei, soweit es um die Verursachung des Heckschadens gehe (vgl. OLG Karlsruhe VersR 1982, 1150; OLG Hamm, a. a. O.; OLG Düsseldorf NZV 1995, 486, 487; Urteil vom 12.6.2006 – 1 U 206/05 -, abgedr. bei „juris“ Rz. 39, 41). Diese Auffassung wird damit begründet, dass bei ihm regelmäßig feststehe, dass er nicht aufgeschoben worden sei, mit der Folge, dass es sich für ihn um einen gewöhnlichen Auffahrunfall handele. Soweit er behaupte, der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs habe den Bremsweg unerwartet verkürzt, indem er selbst auf den Vordermann aufgefahren sei, obliege es ihm, die sich aus dem Beweis des ersten Anscheins begründete richterliche Überzeugung zu erschüttern (vgl. OLG Düsseldorf, a. a. O.).
bb)
Bei dieser Argumentation wird jedoch übersehen, dass der Anscheinsbeweis bei Verkehrsunfällen voraussetzt, dass es sich um einen typischen Geschehensablauf handelt, bei dem sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist. Dabei ist grundsätzlich Zurückhaltung geboten, weil der Anscheinsbeweis es erlaubt, aufgrund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache, bzw. das Verschulden festgestellt werden muss. Deshalb reicht alleine der Auffahrunfall als „Kerngeschehen“ als Grundlage eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheit gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (vgl. BGH NJW 2012, 608 f. m. w. N.). Unter Anwendung dieser Grundsätze kommt zur Überzeugung des Senats ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung des Heckaufpralls durch den letzten in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmer nur dann in Betracht, wenn feststeht, dass das vorausfahrende Fahrzeug rechtzeitig hinter seinem Vordermann zum Stehen gekommen ist. Kann eine solche Feststellung nicht getroffen werden, fehlt es an einem typischen Geschehensablauf, der ein Verschulden des zuletzt in der Kette auffahrenden Verkehrsteilnehmers aufdrängt, weil dann die Möglichkeit besteht, dass der Vorausfahrende für den auffahrenden Verkehrsteilnehmer unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges „ruckartig“ zum Stehen gekommen ist, indem er seinerseits auf seinen Vordermann aufgefahren ist und deswegen den Anhalteweg für den ihm nachfolgenden Verkehrsteilnehmer unzumutbar verkürzt hat. Dieser Fall ist vergleichbar mit dem Auffahren auf ein anderes Kraftfahrzeug auf der Autobahn, wenn nicht feststeht, ob der Vorausfahrende vor dem Zusammenstoß einen Spurwechsel vorgenommen hat oder nicht. Auch in dem Fall des nicht feststellbaren Spurwechsels auf der Autobahn hat der Bundesgerichtshof die Annahme eines Anscheinsbeweises zugunsten des Geschädigten verneint (vgl. BGH NJW 2012, a. a. O.).
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