Anwendung des Zweifelsgrundsatzes bei § 20 StGB

In einem aktuellen Urteil (Az. 5 StR 196/23) hat der (BGH) eine Entscheidung des Landgerichts Hamburg aufgehoben, in der der Angeklagte wegen versuchten Mordes freigesprochen wurde. Im Fokus dieser Entscheidung stand die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes in Bezug auf § 20 StGB, der die Schuldunfähigkeit aufgrund einer psychischen Störung oder Intoxikation regelt. Diese Entscheidung verdeutlicht die hohen Anforderungen an die Feststellung der Schuldunfähigkeit und die sorgfältige Anwendung des Zweifelsgrundsatzes im Strafrecht.

Sachverhalt

Der Angeklagte war angeklagt, einen versuchten begangen zu haben, indem er mit einem Cuttermesser auf das Opfer eingestochen hatte. Das Landgericht Hamburg sprach ihn frei, da es nicht ausschließen konnte, dass der Angeklagte aufgrund einer Mischintoxikation aus und Drogen schuldunfähig war. Der BGH hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück.


Rechtliche Analyse

Anforderungen an die Feststellung der Schuldunfähigkeit

Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB setzt voraus, dass der Täter aufgrund einer psychischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nicht in der Lage ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

  1. Beweiswürdigung durch das Gericht: Das Landgericht stützte sich auf die Aussage des Sachverständigen, der eine „nicht ganz unerhebliche“ Mischintoxikation des Angeklagten festgestellt hatte. Diese Feststellung beruhte jedoch hauptsächlich auf den Angaben des Angeklagten, der behauptete, Crack geraucht zu haben. Das Gericht hinterfragte diese Angaben nicht ausreichend, obwohl andere Beweise und Zeugenaussagen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Angaben aufwarfen.
  2. Eigenverantwortliche Prüfung des Gerichts: Der BGH betonte, dass das Gericht nicht einfach den Aussagen des Sachverständigen folgen darf, sondern eine eigenverantwortliche Prüfung vornehmen muss. Dies umfasst die Überprüfung und Bewertung der Angaben des Sachverständigen sowie eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, die auf die Schuldunfähigkeit hinweisen könnten.

Anwendung des Zweifelsgrundsatzes

Der Zweifelsgrundsatz („in dubio pro reo“) besagt, dass im Zweifel für den Angeklagten entschieden werden muss. Dieser Grundsatz gilt auch bei der Beurteilung der Schuldunfähigkeit. Der BGH kritisierte, dass das Landgericht vorschnell den Zweifelsgrundsatz angewandt hatte, ohne die notwendigen Schritte zur Feststellung der tatsächlichen Schuldunfähigkeit zu unternehmen.

  1. Unzureichende Ermittlung: Das Landgericht hatte sich der Einschätzung des Sachverständigen angeschlossen, dass eine Schuldunfähigkeit nicht ausgeschlossen werden könne, ohne selbst detaillierte Überlegungen anzustellen oder zusätzliche Beweismittel in Betracht zu ziehen. Das Gericht muss jedoch selbst abwägen, welche Gründe für und gegen die Schuldunfähigkeit sprechen, und erst wenn unüberwindbare Zweifel bestehen, darf der Zweifelsgrundsatz angewendet werden.
  2. Gesamtschau aller Beweisanzeichen: Eine umfassende Prüfung aller Beweise und Indizien ist notwendig, um zu einer fundierten Entscheidung über die Schuldunfähigkeit zu gelangen. Das Fehlen einer rationalen Erklärung für die Tat oder die mangelnde Motivation des Angeklagten reichen allein nicht aus, um auf eine schwere psychische Störung zu schließen.

Fazit

Die Entscheidung des BGH unterstreicht die hohen Anforderungen an die Feststellung der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB und die sorgfältige Anwendung des Zweifelsgrundsatzes. Gerichte müssen eine eigenverantwortliche und umfassende Prüfung vornehmen und dürfen sich nicht allein auf die Einschätzung von Sachverständigen verlassen. Diese Klarstellungen tragen zur Rechtssicherheit und zur fairen Behandlung von Angeklagten bei, indem sie sicherstellen, dass Freisprüche aufgrund von Schuldunfähigkeit nur dann erfolgen, wenn tatsächlich fundierte Zweifel bestehen.

Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)
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Von Rechtsanwalt Jens Ferner (Fachanwalt für IT- & Strafrecht)

Ich bin Fachanwalt für Strafrecht + Fachanwalt für IT-Recht und widme mich beruflich ganz der Tätigkeit als Strafverteidiger und dem IT-Recht. Vor meinem Leben als Anwalt war ich Softwareentwickler. Ich bin Autor sowohl in einem renommierten StPO-Kommentar als auch in Fachzeitschriften. Dabei bin ich fortgebildet in Krisenkommunikation und Compliance.

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