OLG Hamm zur Verhältnismäßigkeit von Haftanordnungen und rechtsstaatlichen Anforderungen im Auslieferungskontext: Mit Beschluss vom 18. Februar 2025 (Az. 5 Ws 490/24 und 40/25) hatte sich der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Hamm mit der Frage zu befassen, ob und in welchem Umfang eine im Ausland – konkret in Italien – vollzogene Auslieferungshaft auf die Untersuchungshaft in Deutschland anzurechnen ist.
Darüber hinaus setzte sich das Gericht eingehend mit der Frage auseinander, ob etwaige Mängel im italienischen Auslieferungsverfahren oder Verzögerungen im deutschen Haftbeschwerdeverfahren die Aufrechterhaltung nationaler und europäischer Haftbefehle als unverhältnismäßig erscheinen lassen.
Hintergrund und Problemstellung
Der Beschuldigte war in einem umfangreichen Verfahren wegen Umweltstraftaten – namentlich der Verbringung von Quecksilber in die Schweiz – dringend tatverdächtig. Aufgrund dieses Tatverdachts erließ das Landgericht Essen bereits im Jahr 2017 einen Haftbefehl, der über Jahre Bestand hatte und unter anderem Grundlage eines europäischen Haftbefehls wurde. Der Beschuldigte hatte sich dem Verfahren durch Flucht entzogen und wurde erst später in Italien festgenommen, wo er für sechs Monate in Auslieferungshaft saß.
Die Anrechnung der Auslieferungshaft
Im Zentrum der Entscheidung stand die Auslegung des § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB, der die Anrechnung von Auslieferungshaft regelt. Das OLG Hamm stellte – in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – klar, dass auch im Ausland verbüßte Auslieferungshaft grundsätzlich im Verhältnis 1:1 auf die inländische Freiheitsstrafe anzurechnen ist. Eine abweichende Bewertung – etwa eine privilegierende Anrechnung im Verhältnis 2:1 oder 3:1 – komme nur in Betracht, wenn schwerwiegende, belegte menschenunwürdige Haftbedingungen im Ausland vorgelegen hätten. Solche Umstände waren im vorliegenden Fall nicht substantiiert vorgetragen worden. Im Gegenteil: Die Inhaftierung in Italien sei eine Konsequenz des eigenen Verhaltens des Beschuldigten gewesen, der sich durch Flucht dem Verfahren entzogen habe.
Zudem betonte der Senat, dass deutsche Gerichte keinen unmittelbaren Einfluss auf die Bedingungen in ausländischen Vollzugsanstalten haben und daher auch nicht für dortige Haftbedingungen verantwortlich gemacht werden könnten. Der Maßstab einer etwaigen Abweichung vom Anrechnungsgrundsatz müsse daher besonders streng sein.
Zur Verhältnismäßigkeit der Haftanordnung
Ausführlich widmete sich das Gericht der Frage, ob unter Berücksichtigung der bereits vollzogenen Auslieferungshaft und dem Fortgang des Verfahrens noch eine verhältnismäßige Grundlage für den Haftbefehl bestand. Hierzu stellte der Senat klar, dass eine Untersuchungshaft dann unverhältnismäßig wird, wenn sie bereits die voraussichtliche Dauer der Gesamtfreiheitsstrafe erreicht oder überschreitet. Davon sei im vorliegenden Fall jedoch keine Rede: Die sechsmonatige Auslieferungshaft sei nur ein Bruchteil der zu erwartenden mehrjährigen Strafe, die sich – so das OLG – angesichts des Delikts und der fehlenden Mitwirkung des Beschuldigten im Verfahren im nicht mehr zur Bewährung aussetzbaren Bereich bewege.
Wesentliche strafmildernde Umstände, wie sie bei den Mittätern vorlagen – insbesondere ein umfassendes Geständnis und die Mitwirkung an der Vermögensabschöpfung – fehlten beim Angeklagten. Dies rechtfertige eine deutlich härtere Strafzumessung und lasse den Haftbefehl auch unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit als aufrechterhaltenswert erscheinen.
Keine Durchschlagskraft von Verfahrensfehlern im Auslieferungsverfahren
Besondere Beachtung verdient die Auseinandersetzung mit den geltend gemachten Verfahrensmängeln im italienischen Auslieferungsverfahren, etwa der unterbliebenen Übersetzung des europäischen Haftbefehls oder der vermeintlich fehlenden Bereitstellung eines Dolmetschers. Auch hier zeigte sich das OLG Hamm restriktiv: Selbst unterstellt, dass solche Fehler vorgelegen hätten, seien sie nicht geeignet, die Rechtmäßigkeit des deutschen Haftbefehls zu erschüttern. Die Bundesrepublik könne nicht für etwaige Fehler fremder Justizsysteme haftbar gemacht werden. Zudem habe der Beschuldigte in Italien selbst erfolgreich Rechtsmittel eingelegt – ein Beleg dafür, dass effektiver Rechtsschutz gewährleistet gewesen sei.
Auslieferungshaft
Die Entscheidung des OLG Hamm unterstreicht in prägnanter Weise, wie stark das Strafverfahrensrecht vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit geprägt ist – zugleich aber auch, dass dieses Prinzip nicht in rechtsferne Schutzreflexe münden darf. Die klare Absage an eine pauschale Begünstigung wegen vermeintlich schlechterer Haftbedingungen im Ausland verdeutlicht, dass Verteidigertätigkeit sich nicht in Opportunitätsüberlegungen erschöpfen darf.
Wer sich durch Flucht dem Verfahren entzieht, kann sich nicht auf die Härte der ausländischen Haft berufen, um eine Aufhebung der Haftanordnung zu erreichen. In einer Zeit, in der internationale Strafverfolgung immer häufiger grenzüberschreitend erfolgt, schafft das OLG Hamm mit dieser Entscheidung ein rechtsdogmatisch solides und differenziertes Fundament für den Umgang mit Auslieferungshaft und prozessualer Verzögerung.
Verzögerungen im Haftbeschwerdeverfahren
Abschließend ging das OLG Hamm auf die im Beschwerdeverfahren aufgetretenen Verzögerungen ein. Zwar sei die Weiterleitung der Akten und die Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft nicht mit der gebotenen Beschleunigung erfolgt – insgesamt sei das Verfahren um etwa sieben Wochen verzögert worden. Doch betonte das Gericht, dass solche Verzögerungen allein nicht zur Unverhältnismäßigkeit der Haftanordnung führen. Maßgeblich sei eine Gesamtwürdigung, die auch das Gewicht des staatlichen Strafverfolgungsinteresses und die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts einbezieht. Da im konkreten Fall die Haft nicht vollzogen wurde und der Beschuldigte sich weiterhin dem Verfahren entziehe, sei eine Belastung durch den Haftbefehl zwar spürbar, aber nicht übermäßig. Die Grenze zur Unverhältnismäßigkeit sei nicht überschritten.
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